Goldie Goldbloom: Eine ganze Welt, Aus dem Englischen von Anette Grube, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021, 285 Seiten, €24,00, 978-3-455-00901-9
„Keine der schwangeren Frauen war älter als fünfundvierzig. Arme Surie. Keine Wunder, dass sie nichts gesagt hatte. In dieser Gemeinde, an diesem Ort folgten alle einem unsichtbaren Muster. Surie passte auch nicht in die Klinik, aber als Schwangere mit siebenundfünfzig musste sie dieser Gemeinschaft, die Gleichförmigkeit so sehr schätzte, ein Gräuel sein.“
Surie Eckstein lebt mit ihrer Familie in Williamsburg, in der Gemeinschaft der Chassiden. Als jüdische Frau des Rabbiners Yidel ist sie mit ihren siebenundfünfzig Jahren Mutter von zehn Kindern, zweiunddreißig Enkelkindern und einem Urenkelkind. Sie hat eine Brustoperation hinter sich und auch die Menopause ist längst eingetreten. Als sich ihr Bauch immer mehr vergrößert und diese körperliche Veränderung nicht durch ansetzendes, weiches Bauchfett bedingt durch die Wechseljahre zu erklären ist, wird klar, sie ist schwanger. Suries Füße sind am Morgen bereits geschwollen, sie ist für ihr Alter eine alte Frau, gezeichnet durch ihre Schwangerschaften, die Krebserkrankung und die Trauer um ihren Sohn Lipa.
Bei den für sie qualvollen Untersuchungen im Krankenhaus stellt sich auch noch heraus, dass sie Zwillinge gebären wird, da eine Abtreibung für sie nicht in Frage kommt.
Die sogenannte geriatrische Schwangerschaft birgt aber nicht nur gesundheitliche Probleme für Surie. Neben der Gefahr, dass die Kinder behindert sein könnten, verliert ihre Familie extrem an Ansehen in der Gemeinde. Drei Söhne leben noch bei den Ecksteins, deren Verheiratung mit guten Ehefrauen in Gefahr ist.
Eingebettet in die chassidische Gemeinschaft, in der Jiddisch gesprochen wird und deren Vorfahren aus Ungarn und Rumänien stammen, hat Surie nie richtig Englisch gelernt. In ihrer traditionellen, dunklen, altmodischen Kleidung wirkt Surie wirklich wie eine sehr alte Frau. Ihr Mann Yidel freut sich auf den Ruhestand. Beide führen eine stille Ehe, kommen mit wenig Worten aus, sind sich aber körperlich sehr nah. Yidel ist ein guter Vater, ein verständnisvoller Partner und liebender Mann. Als Sohn Lipa sich jedoch zuerst mit seinen Problemen an den Vater gewandt hatte, fehlte jegliche Empathie mit dem Sohn. Extravaganzen, wie seine grüne Brille, werden in der Gemeinschaft nicht geduldet. Ausgestoßen aus der Familie hat sich Lipa nach seiner HIV-Infizierung weit ab von Brooklyn erhängt. Surie trägt die Brille ihres Sohnes bei sich, wie ein Symbol ihres Versagens als Mutter. Durch die Schwangerschaft verweilt sie gedanklich oft bei ihm, sieht ihn an allen möglichen Orten und trauert. Yidel ist der Meinung, dass der Sohn hätte schweigen sollen, eine Frau heiraten, Kinder bekommen und alle weiteren Wünsche einfach unterdrücken. Alle denken so, aber Surie beginnt zu zweifeln.
Surie, die nie die heiligen Regeln verletzt hat, ohne Ende geputzt hat, gekocht, sich um die Kinder gekümmert, schafft es nicht, ihren Mann von der Schwangerschaft zu erzählen. Hatte er früher doch immer gespürt, wenn seine Frau in anderen Umständen ist, so versagt jetzt die Körpersprache.
Val, Suries Hebamme, begleitete ihre Hausgeburten. Die Zwillinge jedoch müssen im Krankenhaus zur Welt gebracht werden. Jede Woche geht Surie nun getarnt durch eine Lüge ins Krankenhaus. Sie hilft Val sogar, als eine schwangere Dreizehnjährige aus einer anderen Gemeinde nicht mit dem Klinikpersonal sprechen will und kann. Ihr offenbart sich das Mädchen, dass von einem Therapeuten missbraucht wurde. Niemand glaubt dem Kind, und die Gemeinde vertuscht die Tat aus Angst vor der öffentlichen Schande.
Mit immer mehr Verständnis begleitet der Leser Surie auf ihrem Weg durch ihren Alltag. Suries älteste Tochter lebt mit ihr in einem Haus und auch die Schwiegereltern, deren Geschwister in Auschwitz ermordet wurden und die durch ein Österreichisches Flüchtlingslager in die USA emigriert sind. Der Schwiegervater und auch die Schwiegermutter sind durch einen Haushaltsunfall blind. Und doch erspürt die Schwiegermutter Suries Zustand. Sie drängt sie, Yidel zu informieren.
Als Surie, die sich nun doch langsam auf die Babys freut und bereits im siebten Monat ist, sich ihrer Tochter offenbart, geschieht genau das, wovor sie sich gefürchtet hatte. Die Tochter schämt sich vor der Gemeinde für die Eltern.
Surie jedoch ist gedanklich schon viel weiter. Sie hat bei Val im Krankenhaus mit einer Ausbildung als Laienhebamme begonnen. Das gibt ihr Kraft, ihr Wissen weitergeben zu können, für sich etwas zu tun und so über den Tellerrand hinauszusehen.
„Surie stand wie eine Säule in der U-Bahn-Station, eine Frau, von der die Leute glaubten, sie wüssten alles über sie – Ausländerin, Fanatikerin, ein anachronistischer Witz, eine ungebildete Mutter. Auch ihre Familie glaubte, sie zu verstehen.“
Berührend liest sich dieser Roman über eine tüchtige, bodenständige, aber auch eingeengt lebende Frau, die alles richtig machen will und nun vor einem Dilemma steht. Der Leser hat sich längst für sie geöffnet, sieht sie als Mensch in Not und bleibt voller Sympathie an ihrer Seite, hofft mit ihr, dass alles gut wird und ahnt doch, dass das nicht sein kann.
Absolut lesenswert!