Liz Kessler: Ein Jahr ohne Juli, Aus dem Englischen von Eva Riekert, Fischer Schatzinsel, Frankfurt a.M. 2012, 333 Seiten, €12,99, 978-3-596-85479-0

„Mein T-Shirt ist voller Spülwasser, ich habe eine beste Freundin, deren Leben zerstört ist von etwas ganz Schrecklichem, das ihrem Bruder widerfahren ist – an das ich keinerlei Erinnerungen habe -, und jetzt fragt man mich völlig nebenbei, ob ich einem Baby die Windeln wechseln kann, von dessen Existenz ich bisher nichts gewusst habe.“

Die 12-jährige Jenny trifft sich jedes Jahr für eine Woche mit ihrer besten Freundin Juli in einer Ferienanlage. Julis Eltern sind echte Exoten und wohlhabende Künstler. Sie fragt nie, ob sie etwas darf. Sie tut es einfach. Jenny ist manchmal erstaunt, wie es kommt, das sie mit diesem fabelhaften, fantasievollen und abenteuerlustigen Mädchen befreundet ist. Bei ihr ist alles so stinknormal, weder unordentlich, noch chaotisch. Die beiden Mädchen kennen sich seit Kindergartentagen und seit der Zeit sind auch ihre Eltern befreundet. Für den kommenden Tag planen die beiden so unterschiedlichen Freundinnen einen Reitausflug, obwohl Jenny auch gern mit ihrer hochschwangeren Mutter ins Kerzenmuseum gegangen wäre. Aber das ist Juli zu langweilig.

Jenny verpasst die Verabredung, denn sie hat den alten, klapprigen Fahrstuhl, der gerade repariert wurde, bestiegen. Sie steht vor Julis Appartment, aber eine fremde Frau öffnet die Tür. Jenny ist verwirrt und versteht erst nach und nach, dass die Zeit schlagartig um ein Jahr vorgeschnellt ist. Das Leben von Julis Familie hat sich völlig gewandelt, denn Mickey, der sechsjährige Bruder, ist anstelle von Jenny mit zum Reiten gefahren und bei einem Unfall schwer verletzt worden. Allerdings hätte ihm geholfen werden können, wenn er schnellstens ins Krankenhaus gebracht worden wäre. Nun liegt er im Koma. Jenny findet Juli und ihre Familie in der Feriensiedlung in einer kleinen Wohnung. Julis Vater sitzt nur noch im Pub, die Mutter kommt nicht mehr aus dem Bett und Juli ist ein Häufchen Elend. Auch in Jennys Familie gibt es nur Spannungen.
Längst ahnt Jenny, dass sie weder an Gedächtnisverlust noch geistiger Verwirrung leidet, sondern der Fahrstuhl der Verursacher der Zeitenverschiebung ist. Die fremde Frau in Julis ehemaliger Wohnung kennt sein Geheimnis. Es hat ihr Leben in Bahnen gelenkt, die sie so nie wollte und offenbar nicht mehr rückgängig machen kann.

Jenny fällt nun von einem Extrem ins nächste, denn sie will wissen, wie die weiteren Jahre aussehen werden, indem sie einfach mit dem alten Fahrstuhl höher fährt.

Und es wird nicht besser, ganz im Gegenteil.

Juli und Jenny liefern sich erbitterte Auseinandersetzungen, denn Juli macht ihre Freundin für den Unfall ihres Bruders verantwortlich, da sie nicht zum Ausflug mitgekommen ist. Wiederum ein Jahr später ist Juli völlig apathisch geworden. Immer noch setzt sie sich mit ihrer Schuld am Unfall auseinander, denn sie hatte ihren unerfahrenen Bruder zum Galoppieren veranlasst. Sein Todesurteil.

Aber Jenny ist nicht mehr die sanfte und biegsame Freundin, die Juli gewohnt ist. Durch die schmerzlichen Erfahrungen in den unterschiedlichen Zeiten verändert sich auch ihr Blick, auf das was mit Menschen geschehen kann. Und Jenny stellt sich viele Fragen: Stelle ich mich in einer existentiellen Situation der Wahrheit oder lebe ich in der Illusion, dass alles schon wieder werden wird? Stoße ich alle Menschen, die mich lieben von mir oder versuche ich, Hilfe anzunehmen?

Jenny hofft, dass sie mit dem Fahrstuhl die Zeit zurückdrehen kann, um doch noch am Reitausflug mit July allein teilnehmen zu können. Als sie ins Untergeschoss gelangt, rückt die Zeit auf zehn Minuten vor dem Treffpunkt zurück. Aber nun will Mickey zum Reiten mitkommen und July kann nichts dagegen unternehmen. Ist das Schicksal wirklich vorherbestimmt oder kann man eingreifen, um doch noch das Schlimmste zu verhindern?

Liz Kessler findet für ihren Kinderroman ein versöhnliches Ende und doch wirft sie viele Fragen auf, die Kinder sicher bewegen. Und sie zeigt, wie sehr Jenny um ihre so vom Schicksal gebeutelte Freundin kämpft. Durch das Spiel mit dem Zeitraffer kann die Autorin außergewöhnlich schnell Ereignisse geschehen lassen und Jenny vor vollendete Tatsachen stellen. Sie muss schnellstens kombinieren, denn die Wahrheit glaubt ihr niemand.