Dina Nayeri: Drei sind ein Dorf, Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, mareverlag, Hamburg 2018, 368 Seiten, €24,00, 978-3-86648-286-9
„Manchmal stelle ich mir unseren Aufenthalt in Istanbul gern aus der Perspektive des Hotelpersonals vor. Nach einigen Wiedersehen mit Baba nahmen wir gar nicht mehr wahr, wie eigenartig wir wirkten, dass wir uns jedes Jahr ein bisschen mehr verändert hatten, auseinandergedriftet und einander so fremd geworden waren, dass wir als Gruppe keinen Sinn ergaben, wie die einzelnen Elemente eines Gesichts, die nach zu vielen Schönheitsoperationen nicht mehr zusammenpassen.“
Nilou ist acht Jahre alt als ihre Mutter mit ihr und ihrem jüngeren Bruder Kian 1993 aus dem Iran flieht. Nilous Mutter ist in die Fänge der Sittenpolizei im Iran geraten und beschließt, sie muss das Land verlassen. Baba, der rothaarige und temperamentvolle Vater von Nilou, arbeitet als Zahnarzt und bleibt mit der Hoffnung, der Familie nach einer gewissen Zeit folgen zu können.
Dreißig Jahre später setzt die Handlung ein. Nilou ist eine anerkannte Anthropologin mit französischem Pass, die in Amsterdam an der Universität lehrt und in der Forschung arbeitet. Ihr Mann Guillaume, ein Franzose, ernährt die Familie durch seine Arbeit als Rechtsanwalt. Beide werden in eine größere eigene Wohnung ziehen.
Aus der personalen Perspektive erzählt Dina Nayeri nun in Erinnerungen, kurzen Umkreisungen bestimmter Treffen und Alltagsepisoden vom Leben dieser getrennten Familie.
Nilous Mutter lebt mit den Kindern zuerst in den USA, in Oklahoma. Die Tochter hat gelernt sich anzupassen und doch braucht sie bis heute eine „eigene Parzelle“, einen kleinen Raum für sich, in dem sie ihre Sachen deponiert und sich zurückziehen kann. Tief in ihr hat sich eingebrannt, dass sie keine Almosen annehmen kann, sie hasst den Gedanken dankbar sein zu müssen. In den USA bezeichnete man sie als „das Kind aus Vorderasien“, dass sich jedoch mit hervorragenden Leistungen und einem eisernen Willen seinen Platz erkämpft. Auch Kian findet eine Bestimmung, er wird Koch und ist an allen möglichen, auch persischen Rezepten interessiert.
Immer wieder wirft die Autorin die Frage der Identität auf, denn die Erinnerungen Nilous an den Vater, den sie mehrmals treffen wird, und an die Heimat blitzen ab und zu auf, sind aber eigentlich mehr als verschüttet. Immer öfter fragt sie sich, wer sie eigentlich ist? Bei einigen Auseinandersetzungen mit Gui, ihrem Mann, entstehen ernsthafte Probleme, die er nicht verstehen kann. So wirft er einfach ein Gewürzglas, dass Nilous Oma ihr geschickt hatte, in den Müll, ohne zu ahnen, welche Gefühle und Erinnerungen seine Frau damit verbindet. Als Nilou sich in Amsterdam einer Gruppe von iranischen Flüchtlingen anschließt, beginnt sie sich mit dem Schicksal dieser Menschen, die in den Niederlanden den Gegenwind durch die Partei des Geert Wilders ertragen müssen, auseinanderzusetzen. Dabei ist Nilou in keinster Weise emotional involviert, sie kann keine Zeit vergeuden, hält sich streng an Fakten, dabei analysiert sie ihr Verhalten den Migranten gegenüber und die Veränderungen auch in der Sprache. Immer mehr Bedeutung erlangen aber auch die erzählten Geschichten und Gedichte aus dem Iran für Nilou, denn ihr Vater ist zwar ein großer und anstrengender Lügner, aber auch ein fantasievoller Erzähler. Der Westen erscheint den iranischen Flüchtlingen als frostiger und ungastlicher Boden, nur durch ihre gegenseitigen Erzählungen können sie die eigene Trostlosigkeit, das Warten und die Ungewissheit überdecken. Auch Nilou ahnt, dass ihr Vater getrennt von der Heimat nie Fuß fassen würde. Schnell versteht der Leser, welche Unterschiede nicht nur in den Mentalitäten, aber auch im Blick auf das Leben an sich, zwischen Inländern und Migranten herrschen.
Bei der ersten Begegnungen mit dem Vater ist Nilou vierzehn Jahre alt. Bereits jetzt spürt sie die Entfremdung. Auch in den kommenden Treffen wird klar, der Vater wird nicht aus dem Iran ausreisen. Zu sehr hängt er an seinen Drogen, am Opiumkonsum, von dem er auch bei seinen Aufenthalten in London, Madrid oder Istanbul nicht lassen kann. Von der Mutter getrennt heiratet der Vater noch zwei Mal und wird nicht glücklich. Immer wieder soll der Vater nun Nilous Mann kennenlernen, aber Termine verhindern Gui und Nilou erkennt, dass sie sich auch für den fremden Vater schämt. Aber dann lässt der Vater alles hinter sich und macht sich auf den Weg nach Europa, eine Entscheidung, die Nilous Leben verändern wird.
Dina Nayeri verarbeitet in ihrem Roman Autobiografisches und Fiktives, indem sie viele eigene Erlebnisse schildert, einiges erfindet, sich aber auch an wahren Geschehnissen mit Flüchtlingen, z.B. in den Niederlanden orientiert. Nah an ihrer Hauptfigur Nilou verfolgt der Leser das Leben einer Familie, die zerrissen ist und trotzdem nicht voneinander lassen kann. Wie und wo schlage ich als Migrant Wurzeln, welche Möglichkeiten haben Menschen auf der Flucht überhaupt, was prägt sie und bestimmt ihr künftiges Dasein?
Fast tagesaktuell ist dieser Roman, denn wenn es ein Thema gibt, das die Politik momentan beschäftigt, dann ist es der Umgang mit den geflüchteten Menschen und ihre Zukunft in Europa.
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