Jessica Durlacher: Die Stimme, Aus dem Niederländischen von Annelie Bogener, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 495 Seiten, €25,00, 978-3-257-07185-6
„In diesem Moment begriff ich, dass er seine Entscheidung nicht mehr rückgängig machen würde. Er würde sich in Amals Kielwasser als erster niederländischer Anwalt mutig in eine kontroverse Debatte über die Gefahren des radikalen Islam innerhalb und außerhalb unserer Landesgrenzen stürzen.“
Alles beginnt in diesem Roman, in dem Zelda Wagschal die Ich-Erzählerin ist, mit bedrohlichen Warnungen. Nachdem die Psychologin zehn Jahre mit ihrem nun zweiten Partner Bor, ein erfolgreicher Anwalt und ziemlicher Außenseiter, zusammen ist, entschließt sich dieser ganz spontan zu einer jüdischen Hochzeit ( Beide Familien sind durch den Holocaust geprägt. ) in ihrer Lieblingsstadt New York. Im 30. Stock eines Hochhauses lassen sich Zelda und Bor in Anwesenheit ihrer drei Kinder trauen. Doch kaum geschehen, sehen sie ein Flugzeug im World Trade Center, das sie einen Tag zuvor besucht hatten, brennen. Ein Unfall, denken alle an diesem 11. September 2001 im ersten Moment.
Fünfzehn Jahre später erinnert sich Zelda an alles, was ihnen einige Jahre nach dem Terrorangriff widerfahren ist und die Lesenden wissen von Anfang an, dass ihrer Familie etwas Schreckliches passieren wird.
Zurück in Amsterdam leben die Wagschals gut betucht und in Sicherheit. Bors Karriere hat Fahrt aufgenommen, immer öfter ist er in Talkshows zu sehen und immer öfter kauft er sich ziemlich teure Statusdinge, was Zelda eher skeptisch beurteilt. Sie hat ihre eigene Praxis und nachdem das Kindermädchen aus Polen in die Heimat zurückgegangen ist, benötigt sie für den zehnjährigen Sam, der über ein außergewöhnliches musikalisches Talent verfügt und die neunjährige Pol eine Betreuung. Eher per Zufall kommt sie mit eine großen, somalischen Frau in Kontakt, die im Flüchtlingsheim lebt. Ihre Erscheinung ist trotz Abaya und Kopftuch, Bor nennt die Kleidung „das Zelt“, außergewöhnlich, auch wenn sie im Winter Flip-Flops trägt. Bei allem Misstrauen gegen alles Fremde, vor allem dem religiösen Wahn seit den Geschehnissen in New York und dem Wissen, wie sehr man sich selbst dadurch im Wege steht, nehmen die Wagschals Amal in die Familie auf. Sie nehmen in Kauf, dass Amal nicht gerade pünktlich ist und nennen es für sich das „Wohltätigkeitsprojekt“. Doch Amal hat eine positive Ausstrahlung, einen wachen Verstand, den Ehrgeiz, schnell Niederländisch zu lernen und die westliche Lebensweise anzunehmen, ein frohes kindliches Lachen und eine außergewöhnliche Singstimme. Zelda meldet Amal bei der angesagten Fernsehshow DIE STIMME an und Amal übersteht die Vorrunden. Bei ihrem ersten großen Auftritt lässt sie dann eine Bombe platzen. Sie legt vor allen als Muslima ihre Verschleierung ab und löst damit einen Skandal aus. Über sie wird die Fatwa verhängt und somit kann jeder Somali sie töten. Die Fernsehproduktion ist von Amals öffentlicher Erklärung, frei sein zu wollen, überrascht. Wer soll die junge Frau nun schützen? Wo soll sie leben? Im Flüchtlingsheim ist sie nicht sicher. Bor initiiert Amals Unterkunft im Gartenhaus der Familie mit Security. Zelda ist gespalten, einerseits will sie Amal helfen und unterstützt ihre Anliegen, zum anderen fürchtet sie um die Sicherheit ihrer Kinder. Dabei bleibt Amal Zelda eigentlich immer fremd, denn durch den zunehmenden Bekanntheitsgrad hat sich die junge Frau auch verändert. Sie spricht immer besser Niederländisch und offenbart auch mehr, was ihre eigenen Verhältnisse anbelangte. Sie gibt Interviews und berichtet von ihrer Flucht vor ihrem schlagenden, viel zu alten Ehemann.
„Doch bei all ihrer Faszination, all ihrer Anziehungskraft: Ich kann nicht leugnen, dass ich bei ihr unwillkürlich an Käuflichkeit denken musste. Mir war nicht entgangen, dass sie unter ihrem Talent zum Ruhm etwas subtil Berechnendes verbarg, etwas Manipulatives, die Absicht andere gezielt zu verführen.“
Und natürlich fragt sich Zelda auch, wer die Kosten für die Bodygards übernimmt, die rund um die Uhr Amal beschützen. Bor beruhigt seine Frau und gibt vor, finanzielle Hilfe zu organisieren. Dass er dann alles aus den Rücklagen der Familie bezahlt, zieht Zelda nach einem Brief von der Bank den Boden unter den Füßen weg. Doch es kommt noch schlimmer.
Von Beginn an fesselt Jessica Durlacher ihre LeserInnen und zeigt auch mit sarkastischem Blick, wie schwierig es ist, sich auf der Seite der Freiheit und Sicherheit zu wähnen, wenn andere, auch anders Denkende mit viel Mut Einlass fordern. Wohin führen Toleranz, Zumutbarkeit und Hilfsbereitschaft, wenn bei aller Gefahr die zu Beschützende alles selbstverständlich erwartet?
Dass Jessica Durlacher auch teils selbst Erfahrenes mit der somalischen Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali gemacht hat, noch bevor diese zur weltbekannten Aktivistin wurde, verarbeitet sie ebenfalls in ihrem sprachlich so hervorragenden Roman.