Judka Strittmatter: Die Schwestern, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 280 Seiten, €19,99, 978-3-351-03382-8
„Dass es in ihrem Familienzusammenhang eine unbeschwerte Fahrt an die Ostsee ebenso wenig geben würde wie den Weltfrieden, verdrängte sie für den Moment und zugunsten einer mit dem Alter anschwellenden Sehnsucht nach Harmonie.“
Martha und Johanne Andruschat fahren in einem klapprigen Renault von Berlin aus in den Norden, nach Rostock. Die Schwestern, die sich kaum etwas zu sagen haben, sind auf dem Weg in ein ehemaliges DDR-Devisenhotel und zugleich in die eigene Vergangenheit, ihren ehemaligen Wohnort. Aus Marthas Sicht, sie arbeitet mit Worten, ob nun wirklich als Journalistin ist nicht ganz klar, schaut der Leser zurück auf die lieblose, in jeder Hinsicht beengte und beschränkte Kindheit der Mädchen in einem Neubaugebiet und Eltern, die angepasst ihrem sozialistischen Land gedient haben und nun am Wohlergehen ihres Hundes interessierter sind als an dem ihrer Kinder. Für die kinderlosen Schwestern ging es immer nur um die Anerkennung der Eltern, eine Konkurrenz, die auch gut 40 Jahre später immer noch Bestand hat und das Verhältnis entzweit, auch auf dieser angeblichen Erholungsfahrt an die See.
Auf einer zweiten Erzählebene dreht sich alles um Esther Dankwitz, eine ehemalige Bekannte von Martha und jetzige Marketingfrau im Hotel „Sandbank“. Sie hat aus der Presse erfahren, das ihr eloquenter Chef, der sich über die Wende hinweg als Hotelleiter behaupten konnte, einst Mitarbeiter der Stasi war. Esthers Familie, die als Christen sich der flächendeckenden, sozialistischen Vereinnahmung entzogen haben und mit Repressalien klarkommen mussten, ist diese Tatsache nach 20 Jahren keine so große Überraschung. Esther ist eher erstaunt, dass sie es bedauern würde, wenn der Chef nun gehen müsste. Für Martha, sie ist mit 19 Jahren bei einem Westbesuch in der BRD geblieben, ist die Aufdeckung der IM-Tätigkeit eine Story, der sie gern nachgehen würde, um genüsslich in fast verheilten Wunden zu bohren, die doch Esther immer noch spüren müsste.
In langen Rückblenden zeichnet Judka Strittmatter ein erdrückendes Familienbild, aus dem sich die immer zu gut beleibte Martha, trotz jahrelanger Therapie und gutem Willen, nicht lösen kann. Zwar hat sie äußerlich die Beziehung zu den Eltern abgebrochen, innerlich ist sie nach wie vor gefangen. Johanne schaut milde in die Vergangenheit, bleibt eher blass in dieser Geschichte. Alle detailreichen, ja bissigen gegenwärtigen Beschreibungen der bundesdeutschen Gegenwart im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg sind gut beobachtet. Da sind die zugereisten „Stuttgarter Spätgebärenden“ mit ihrem unsäglichen Selbstbewusstsein und ihrer Egozentrik, die empörenden RTL-Reality-Shows und der Hang der neuen Mitbürger, dass alles perfekt sein muss. Martha, die an ihren Zweifeln und Komplexen leidet, muss feststellen, dass auch die Freiheit keine besseren Menschen hervorbringt.
Seltsam mutet die manirierte Sprache von Judka Strittmatter an. Allein der erste, ziemlich gedrechselte Satz umspannt eine halbe Seite und befremdet im ersten Moment. Vieles steht sich innerhalb dieser Geschichte über eine schwierige Schwesternbeziehung, einen ungeliebten, aber in der DDR hochgelobten Schauspieler – Onkel ( möglicherweise Erwin Strittmatter, den Großvater ) und den gedanklichen Wandel Esthers ihrem Chef gegenüber. Und doch verbindet alle die Absage an eine Vergangenheitsbewältigung, die aufrecht erhalten letztendlich alle nur in einem unbefriedigten, zermürbenden Zustand zurück lassen würde.
Esthers Eltern, deren Ausreiseantrag 1989 bewilligt wurde, und die nun in Hamburg leben, haben ihren Frieden mit 40 Jahren DDR gemacht. Und so rät Viktor, der Freund von Martha, seiner erneut aufgewühlten Lebensgefährtin als Johanne nach einem Schlagabtausch abreist, auch, die Dinge einfach so zu lassen, wie sie sind, endlich Ruhe zu geben.
Doch kann man wirklich auf leichte Weise individuelle Konflikte des Mikrokosmos Familie mit den schweren gesellschaftlichen Themen, Stasi-Vergangenheit, Zusammenwachsen von Ost und West gleichsetzen? Ein Unterfangen, das schwierig scheint.
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