Lionel Shriver: Die Letzten werden die Ersten sein, Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen, Piper Verlag, München 2022, 432 Seiten, €24,00, 978-3-492-07111-6
„Als sie nach Hause kam, war Remington noch im Fitnessstudio. Die überflüssigen Hanteln und das extravagante Laufband verstaubten im ersten Stock. Er feierte den Gottesdienst lieber mit seiner Gemeinde.“
Serenata und Remington sind seit gut zweiunddreißig Jahren verheiratet und vor Kurzem nach Remingtons Frühpensionierung von Albany nach Hudson gezogen. Serenata arbeitet als freiberufliche Sprecherin mehr schlecht als recht für Verlage oder Werbeagenturen. Remington musste durch unangenehme Querelen seine Arbeit als Bauingenieur quittieren. Die Stadt hatte ihm eine sehr junge, unqualifizierte, farbige ( Darf man das eigentlich noch schreiben? Sicher nicht.) Frau vor die Nase gesetzt, die alles über den alltäglichen Rassismus wusste, aber nichts über die Anforderungen im Amt für Transport und Verkehr. Remington als alter, weißer, privilegierter Mann hatte da schlechte Karten mit seinen Ideen und tappte auch in alle Fallen, die ihm gestellt wurden.
Um seinem Leben, so sieht es Serenata, wieder einen Sinn zu geben, kapriziert sich der eigentlich unsportliche Remington aufs Laufen. Er will in einem Vierteljahr einen Marathon in Saratoga Springs mitlaufen. Serenata, die wenig Interesse an anderen Menschen zeigt, kann durch ihre Knieschmerzen nicht mehr gut Laufen und so konzentriert sie sich auf ihre täglichen Fitnessübungen.
Eher sarkastisch als liebevoll kommentiert Serenata nun die Bemühungen ihres Ehemannes. Bleibt doch die Frage, was liegt vor der Generation, die um die sechzig ist? Werden sie so gebrechlich wie Remingtons neunzigjähriger Vater, den nur seine Schwiegertochter besucht oder bleibt der Körper fit, wenn nur ordentlich Sport getrieben und die Ernährung umgestellt wird.
Lionel Shriver schreibt göttliche Sätze über die Ehe, die Anbetung des Körpers und vor allem den
Fanatismus, dem sich so einige Protagonisten in diesem Buch hingeben.
„…, und das so ziemlich einzig Gute am Älterwerden war, dass man sich gegenseitig gestatten konnte, unvollkommen zu sein.“
Doch das sieht Remington ganz anders. Er kauft teure Sportkleidung und Geräte und nimmt in Kauf, dass seine Frau sich extrem vernachlässigt fühlt.
Außerdem muss sich Serenata mit dem völlig überzogenen Hass ihrer religiösen Tochter Valeria herumschlagen, die behauptet, man habe sie in ihrer Jugend im Elternhaus missbraucht. Nachdem sie die Familie vier Jahre mit ihrer Abwesenheit gestraft hat, schaut sie nun gern vorbei und erhofft sich finanzielle Unterstützung für ihre Großfamilie. Aber Serenata kann sich als Mutter zwar zurückhalten, aber allzu gern schiebt sie ihre Arbeit, die die berufslose Tochter nur missachtet, vor.
Auch Sohn Deacon ist ein seltsames Kind. Womit er sein Geld verdient, bleibt ein Geheimnis. Allerdings kann er nicht, wie Valeria behauptet, mit Drogen dealen, denn er kommt immer wieder nach Hause, um ebenfalls finanziell unterstützt zu werden.
Remington jedenfalls nimmt am Marathon teil und läuft in einer grausig schlechten Zeit. Nun hofft Serenata auf Einsicht und ein Ende des Wahnsinns. Aber leider trifft Remington die unerträglich ordinäre Bambi Buffer, die ihn dazu anstachelt, doch einen Triathlon zu wagen.
Lionel Shriver hat einen herrlich komischen Roman über Menschen geschrieben, die all dem Alltagswahn, der heute nicht nur die USA in Atem hält, ausgeliefert sind. Wie verhält man sich politisch korrekt, um nicht seinen Job zu verlieren? Was ist rassistisch? Ist es rassistisch, wenn Serenata Dialekte gut sprechen kann? Wie unerträglich sind religiöse Menschen, die ihre Kinder zu indoktrinierten Automaten erziehen und ständig missionieren?
„Eine der unergründlichen Fragen bei diesen wiedergeborenen Familien war doch, warum die Kinder ihren Eltern so selten sagten, dass sie sich ihren Jesus Christus unseren Herren und Erlöser in den Arsch stecken sollten.“
Was darf man essen und was nicht? Warum glaubt jeder, er muss sein Leben pausenlos optimieren? Serenas Freundin Tommy landet im Krankenhaus, weil sie ihre Kräfte nicht einschätzen konnte.
Alle springen und dehnen sich, sie laufen und sie halten sich fit, denn nur so können sie sich noch spüren.
Serenata hat jedenfalls die Nase voll davon, dass ihr Mann sie zur Zuschauerin in seinem Leben gemacht hat. Sie weiß, dass sie ihre verbleibende Zeit nicht aufwerten muss und das macht sie zu einer einigermaßen sympathischen Figur in diesem Roman voller schrecklicher Menschen.