Mark O’Sullivan: Jimmy, Jimmy, Die Geschichte, wie mein Vater wieder 10 Jahre alt wurde, Aus dem Englischen von Anu Stohner, Deutscher Taschenbuch Verlag, Reihe Hanser, München 2013, 340 Seiten, €13,95, 978-3-423-65003-8
„ In dem Moment erlischt auch meine Erinnerung. Nur kam seine nicht wieder zurück.“
Es ist ein schwerer Schicksalsschlag, den die irische Familie Summerton hinnehmen muss, ohne jemanden dafür wirklich für schuldig zu erklären oder gar verantwortlich zu machen. Von einer Sekunde zur nächsten ändert sich ein gelebtes Leben, eine Biografie, und niemand kann es verhindern. Aus Dad, dem kreativen Illustrator und Geschichtenerfinder, wird Jimmy, ein hilfsbedürftiger, unselbstständiger Mensch.
Der 15-jährige Clem Healy, der für seinen Vater Drogen vertickt, rast wie auf der Flucht mit seinem Rad trotz stoppender Straßenbarrieren den Weg hinunter.
Ealas Dad, sie ist auch die Erzählerin, joggt mit Musik auf den Ohren ohne die geringste Ahnung. Der Zusammenprall der beiden zerstört eine Familie.
Das Schädel-Hirn-Trauma schleudert den 42-jährigen Mann zurück in seine Kindheit. Er gibt sich den Namen Jimmy und will auch, dass die anderen ihn so nennen. Pragmatisch nüchtern versuchen Ealas Mutter, Eala und ihr älterer Bruder Sean mit der neuen Situation umzugehen. Tom, der zweijährige Sohn von Jimmy, spürt eher Angst vor dem neuen Dad. Sean, der den Vater nie in der Reha besuchen wollte, spielt mit ihm, als er nach Hause zurückkehrt, wie mit einem gleichaltrigen Jungen Fußball oder Computerspiele. Sein Kumpel Brian ist dabei. Aber immer wieder schaukeln sich Konflikte hoch und Jimmy kann nur mit äußerster Aggression reagieren. Jeder will Jimmy Gutes tun, jedes Familienmitglied ist befremdet von der neuen Lebenssituation, schwankt zwischen Entrüstung, wenn der Vater als Behinderter bezeichnet wird und Hilflosigkeit, wenn er völlig unberechenbar reagiert. Jimmy fühlt sich unwohl mit seiner Familie, spürt die Spannungen im Haus, die in der Luft liegen, ohne zu ahnen, dass er die Ursache dafür ist.
Als sich herausstellt, dass Jimmy eine gefälschte Geburtsurkunde besitzt und die Versicherungen nichts zahlen werden, muss Ealas Mutter wieder arbeiten gehen.
Unklar ist auch, warum Jimmy panische Furcht empfindet, wenn sein einziger treuer Freund Martin, den er nicht wiedererkennt, auftaucht. Als würden aus seiner Kindheit Erinnerungen an die Oberfläche gespült, die ihn nun bedrängen und ängstigen.
Hin- und hergerissen zwischen eigenen Empfindungen und fremden Ratschlägen, besonders von Fiona, einer Psychologin, die Eala nur verachten kann, weiß Ealas Mutter nicht, wohin mit ihrem Mann. Die Hoffnung, dass sein Zustand sich wieder verändern könnte, er wieder der Alte werden würde, geben alle langsam auf. Eala und auch Sean wissen nicht, wie sie mit ihrer Wut über das Geschehen klarkommen sollen. In diesem Gefühlschaos äußert Sean den Wunsch, der Vater hätte nach dem Unfall nicht aufwachen sollen. Eala schämt sich für den blöden Blick des Vaters, der ihn in ihren Augen so entstellt. Der schuldige minderjährige Radfahrer steht dann zwar vor Gericht, aber eine wahre Strafe wird gegen ihn nicht ausgesprochen. Sean reagiert nur noch mit blinder Gewalt gegen den vermeintlichen Straftäter.
Eala hängt an jeder noch so unbedeutenden Erinnerung mit ihrem geliebten Vater, der als Jimmy nicht mehr umarmt werden will. Sie streitet sich nur noch mit ihrer Freundin, wird ungerecht und gemein. Um den Schmerz auszuhalten, spaltet sie ihre Persönlichkeit in sich und ein anderes starkes Mädchen, mit dem sie Zwiesprache hält. Zur Beruhigung beginnt sie, die Antidepressiva ihres Vaters zu schlucken. Der Gedanke, ihn in eine fremde Einrichtung zu geben, deprimiert sie ungemein. Auch die „Ice Queen“, wie sie die tschechische Pflegerin ihres Vater nennt, die ohne jegliche Emotionen ihre Arbeit erledigt, beunruhigt die Familie. Als Jimmy sich einen Freund sucht, der ebenfalls durch eine Behinderung aus der Bahn geworfen wurde, ist die Familie verwundert und erneut verunsichert.
Sean und Eala finden durch die Ereignisse um ihren Vater immer mehr zusammen, hatten sie doch früher nur gestritten und keinen Draht zueinander. Sie erkennen gemeinsam mit ihrer Mutter, dass ihr Vater auch auf dem Entwicklungsstand eines Zehnjährigen nun seinen eigenen Weg einschlagen muss.
Diese bittere Geschichte, auch wenn sie vom Verlag so angekündigt wurde, hat nichts Tragikomisches, denn sie schildert ein unglaubliches Schicksal, mit dem eine intakte Familie konfrontiert wird. Auch wenn der Vater von Sean, Eala und Tom noch da ist, für die Kinder ist er kein Ansprechpartner mehr. Wie unglaublich traurig und verstörend dies ist, erfährt der Leser durch Ealas Blickwinkel. Er kann nur ahnen, wie es den anderen Menschen um Jimmy herum gehen könnte. Aber nicht nur seelisch sind alle betroffen, die sorgsam verschwiegene Vergangenheit des Vaters lastet ebenfalls auf der Familie.
Harte Geschichte, erzählt ohne Sentimentalität und sehr bewegend!
Schreibe einen Kommentar