Dinah Marte Golch: Die andere Tochter, List Verlag, Berlin 2021, 448 Seiten, €22,00, 9783471360101
„Ich verstehe nun, warum ich dachte, ich müsste mich auf Zsazsas Seite schlagen, als alle anfingen, sie schlechtzumachen. Es ging gar nicht um diese Schwester. Es ging um meine.“
Toni Petzold ist um die vierzig. Sie lebt in einem Häuschen in Berlin-Spandau, will keine Kinder, nicht mit ihrem Freund Holger zusammenziehen und räumt Wohnungen von Toten im Auftrag der Angehörigen aus.
Alles, was in diesem atemberaubend spannend geschriebenen Roman geschieht, umspannt die Zeit von April bis Oktober 2019. Mal erfahren die LeserInnen die Geschichte aus der Sicht von Toni, mal berichtet ein personaler Erzähler, besonders dann, wenn Toni in Frankfurt am Main bei Familie Mertens von einem Gefühlsbad ins nächste steigt.
Die Autorin Dinah Marte Golch erzählt zeitversetzt und hat ihre Handlung geschickt konstruiert. Sie versorgt die LeserInnen mit neuen Informationen, die sie eher verunsichern, als hätten sie etwas überlesen. Aber das ist nicht der Fall. Eins baut aufs andere auf und so fesselt die Berliner Autorin die LeserInnen und zwingt sie fast, den Roman in einem Zug zu lesen.
Toni ist bei ihrer geliebten Großmutter in Spandau aufgewachsen, bis sie dann mit zwölf Jahren wieder bei den leiblichen Eltern, beide sind von Beruf Lehrer, wohnen konnte. Später wird sich herausstellen, dass Toni erst ab dem fünften Lebensjahr, 1984, auf Weisung des Jugendamtes in die Obhut der Oma, der Mutter des Vaters von Toni, kam. Nur der Vater hat Toni regelmäßig besucht.
Gleich zu Beginn der Geschichte schleicht sich Toni trotz Polizeisiegel in die Wohnung der Eltern.
Der Vater hat seine Frau Brigitte, die Toni nie Mutter genannt hat, im Oktober 2019 schwer verletzt und sitzt im Gefängnis.
Bei einer Wohnungsentrümpelung im April 2019 geschieht ein Unglück und Toni verliert durch den Austritt einer chemischen Substanz ihr Augenlicht. Eine Transplantation gibt Toni ihre Sehkraft zurück. Ein Wunder für alle. Um sich erkenntlich zu zeigen, schreibt Toni einen Dankesbrief, der anonym weitergegeben wird. Sie bekommt, was eigentlich laut Gesetz nicht sein darf, einen Antwortbrief von Clara Mertens, der Mutter der Frau, sie nannten sie Zsazsa, durch deren Tod Tonis Augenlicht gerettet wurde. Toni trifft sich mit Clara Mertens, einer schwerreichen Villabesitzerin in Frankfurt am Main und ein unheilvoller Reigen von Ereignissen beginnt. Zwischen Clara und Toni entwickelt sich ein enges Verhältnis, dass Claras bodenständige Tochter Evelyn mit Argwohn beobachtet. Toni ahnt nicht, dass im Hintergrund ein Privatdetektiv seine Fäden spinnt. Seltsame Halluzinationen und Albträume von einem brennenden Mädchen verfolgen Toni in den unmöglichsten Momenten. Als Toni klar wird, dass Clara vielleicht nur die eigene Tochter, die attraktiv, kreativ und offenbar an einer Borderline – Störung litt, in Tonis Augen sieht, stellen sich Unstimmigkeiten ein, die Evelyn vehement fördert. Evelyn vertuscht vieles, was Clara nicht sehen soll und vor allem nicht Toni, die mit ihrer Art, alles zu hinterfragen, auf Familiengeheimnisse stoßen könnte, die den Reichtum der Mertens begründet haben.
Mit Hilfe eines Therapeuten ( Fantastisch sind seine Ausführungen über kindliche Wahrnehmungen und Eltern-Kind-Bindungen in den ersten zehn Jahren! ) versucht Toni, hinter all ihre Leerstellen in der Kindheit zu gelangen. Ihr Vater, ein friedfertiger Alkoholiker, sagt nicht die ganze Wahrheit, das spürt sie. Er fühlt sich schuldig, denn er hat dem rigiden und emotionslosen Erziehungsstil seiner Frau nie Grenzen gesetzt.
Wie in einer guten Serie öffnen sich immer wieder aufs Neue in Gegenwart und Vergangenheit Ungereimtheiten, hinter die die LeserInnen und natürlich Toni schauen möchte.
Am Ende wird sie alles über Zsazsa und die andere Tochter, die nicht Zsazsa ist, wissen und sagen:
„Ich bin nicht mehr Toni. Ich bin jetzt eine andere.“
Absolut spannender Roman vom ersten bis zum letzten Satz. Hoffentlich bald verfilmt, würde mich freuen!