Ashley Audrain: Der Verdacht, Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Penguin Verlag, München 2021, 320 Seiten, €22,00, 978-3-328-60144-9
„Ich wollte den Namen unserer Tochter nicht laut aussprechen müssen, solange ich dort war. Ich hatte mich auf diesen Aufenthalt eingelassen, um von ihr wegzukommen. Ich hatte nicht vor, über sie zu reden oder über dich oder darüber, wie verkorkst meine Mutter war. Ich hatte ein totes Kind. Ich wollte bloß in Ruhe gelassen werden.“
Blythe sitzt mit einem dicken Papierstapel auf dem Beifahrersitz in ihrem Auto und beobachtet von ihrem Standort aus eine glückliche Familie. Sie wollte schon immer Schriftstellerin werden und hat nun ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, denn die Familie, die sie am Abend betrachtet, ist ihr Ex-Mann Fox, seine neue Frau, deren gemeinsamer Sohn und ihre Tochter Violet. In ihren Rückblicken auf ihre eigene Familie und das Leben mit Fox spricht sie ihren einstigen Ehemann direkt an.
Alles läuft gut zu Beginn. Blythe heiratet Fox und ihnen ist klar, sie wollen Kinder. Allerdings schaut Blythe, die mit zwölf Jahren von ihrer Mutter Cecilia verlassen wurde, auf eine fast schon schicksalhafte Kette von unfähigen Frauen in ihrer Familie zurück. Ihre Großmutter Etta zeigt so wie Cecilia keine Zuneigung zu ihrer Tochter, sperrt sie im Keller ein und schafft es nicht, das Kind wieder zu erlösen. Von qualvolle Schweigestrafen, körperlichen Übergriffen, Demütigungen, Tage ohne Essen im Kühlschrank bis hin zu Erinnerungen an schwache Väter reichen die Rückblenden, die Blythe alle minutiös aufzeichnet. Etta versinkt in ihrer Depression und nimmt sich das Leben, Cecilia verlässt die Familie, ohne sich je für ihre Tochter zu interessieren. Die Ehemänner arbeiten weiter, gesprochen wird nie in diesen Familien. Blythe hat das Glück, dass eine Nachbarin das Mädchen umsorgt und versteht, was es durchmacht.
Auch in Blythes neuer Kleinfamilie setzt sich die Tragik fort. Für Fox ist Blythe die Mutter, die weiß, was es heißt, eine Mutter zu sein. Seine eigene Mutter hat immer funktioniert. Sie ist im Muttersein aufgegangen, hat sich um alles gekümmert, die Kinder versorgt und geliebt, als würde dies einfach automatisch ablaufen. Doch Blythe hadert mit dem Muttersein. Sie hat ein Kind, dass sie fordert, sie nicht schlafen lässt, sie von ihrer geistigen Arbeit abhält. Blythe hasst es, einfach nur noch Mutter zu sein, auch in Fox‘ Augen. Geredet wird kaum, als würde alles schon irgendwie gut gehen. Als Fox eines Tages früher nach Hause kommt und bemerkt, dass Violet gut eineinhalb Stunden gebrüllt hat und ihre Mutter sie einfach mit Kopfhörern auf den Ohren ignorierte, um Schreiben zu können, regt sich auch in Blythe das wahrhaft schlechte Gewissen. Als würde das Kind die Distanz der Mutter akzeptieren, verweigert es jegliche Zuneigung zu ihr. Diese emotionale Kälte scheint jedoch schon die Nachtschwester, im ersten Jahr in den Augen des Babys zu sehen. Woher kommt Violets zunehmende Aggressivität und der Hass gegen die Mutter und später gegen kleinere Kinder?
Sofort denkt man beim Lesen an Lionel Shrivers Roman „Wir müssen über Kevin sprechen“. Das Böse will niemand sehen.
Fox kann nicht verstehen, dass seine Frau in seinem Kind etwas anderes sieht als er. Nach dem Tod eines Jungen auf dem Spielplatz, in den auch Violet verwickelt ist, verdrängt Blythe jeglichen Gedanken daran. Sie bekommt ein zweites Kind, Sam. Er ist ihr größtes Glück. Auf einmal ist es da, das Muttergen, die Liebe zum Sohn. Hatte Blythe einst Angst vor ihrem eigenen Kind, das sie beißt, ihr bewusst wehtut, so liebt sie diesen Sohn über alles.
Die völlige Empathielosigkeit des Kindes will niemand wahrnehmen. Fox arbeitet an seinen Projekten als Architekt, ein altes Haus wird gekauft, in das Arbeit gesteckt werden muss. Fox und Blythe funktionieren als Versorger ihrer Kinder, aber nicht mehr als liebendes Paar.
An den Nachmittagen, wenn Violet aus der Kita und später aus der Schule zurückkehrt, dann empfindet Blythe ihren Alltag mit Sam wie ein Minenfeld. Die Vorzeichen sind da, aber niemand will sie sehen.
Ashley Audrain erzählt in ihrem Roman, von einem Verdacht, der sich schnell verhärtet, zumindest für ihre Erzählerin Blythe. Sie ist überzeugt davon, dass ihre Tochter bewusst den Tod ihres Sohnes Sam herbeigeführt hat. Doch wie lebt man damit? Doch was weckt das Böse in einem unschuldigen Kind oder ist es von Beginn an da? Wie entsteht diese Distanz zwischen Mutter und Kind und der Hass, aber auch das Auseinanderdriften der Ehepartner und deren Erwartungen?
Wie die kanadische Autorin feinfühlig über die Abgründe in Familien, das Schweigen und die auch widersprüchliche Mutterschaft schreibt ist atemberaubend. Die Psychologie, die Alltagsbeobachtungen, die Figurenzeichnungen überzeugen und lassen jeden Leser, nachdem er die Seiten des Buches bewegt zuklappt, nicht mehr los.