Patrick Bauer: Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. Der 4. November 1989 und seine Geschichte., Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2019, 368 Seiten, €20,00, 978-3-498-00151-3

„Der 4. November war der einzig schöne, der schönste Tag in der DDR. Und gleichzeitig der Abgesang auf dieses Land. Es war, sagt Reich, eine Theatervorstellung, in die Zukunft gerichtet, aber doch eine Aufführung, eine sehr gute, immerhin inszeniert von Brecht-geschulten Leuten. Jeder Redner hatte sein Couplet, jeder durfte seine zehn Minuten vor dem Volk singen, die Guten und die Bösen, immer abwechselnd, wie Puppen. Bei diesem Schwanengesang machte er mit.“

Am 4. November 1989 beginnt und endet auf dem Berliner Alexanderplatz die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration in der Geschichte der DDR ( Artikel 27 und 28 der Verfassung, Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ). Es ist der Höhepunkt der friedlichen Revolution und ein Aufmarsch der Menschen, die immer noch ein Gewissen hatten.

Patrick Bauer, 1983 in Berlin geboren, arbeitet heute als Journalist für die Süddeutsche Zeitung. In seinen Aufzeichnungen über die Demonstration, die, um ehrlich zu sein, niemand vergessen hat, der in der DDR gelebt hat, beleuchtet er, wie sie legal in einem Land, in dem man gern der Regierung per Demo huldigen sollte, aber nicht kritisieren durfte, zustande kam. Detailreich erzählt er von den Vorbereitungen, dem Verlauf und den Auswirkungen bis heute. In Gesprächen mit Zeitzeugen, Presseartikeln, Originaldokumenten und „Überlieferungen“ setzt er bis in informative detailreiche private Einblicke in die Leben der dreißig Redner und Rednerinnen, Musiker und Beteiligten ein Bild vom 4.November und seinen Folgen zusammen. Geschickt verbindet er dabei biografische Daten mit den Ereignissen rund um den 4. November. Was hat Friedrich Schorlemmer am Vorabend des 4. November gemacht? Wie haben sich die Redner gefühlt? Wie entstanden die kurzen Ansprachen? Was wollten sie den Leuten bei einer Vorgabe, im Text heißt es vier bis fünf Minuten, mitteilen? Viele erzählen, sie hätten die Nacht davor nicht schlafen können? Wie sah das Sicherheitskonzept für diesen Tag aus? Warum glaubten einige, nur ein paar Leute würden zur Demo kommen und andere, die Demonstranten würden zum Brandenburger Tor laufen? Welche Rolle spielten Gregor Gysi, Christa Wolf, Marianne Birthler oder Markus Wolf, um nur einige prominente Namen zu nennen?

Diejenigen, die diese Tage aktiv miterlebt haben, sehen vielleicht vergessene Bilder von den Akteuren vor sich, erinnern sich lebhaft und mit Wehmut an eine Stimmung, die einmalig war.

Auf den Spuren des Politbüromitglieds Günter Schabowski wagt Patrick Bauer auch davon zu erzählen, was in den Köpfen der Regierungsmitglieder der DDR, allen voran in dem des sturen Erich Honecker, vor sich gegangen ist. In der Art, wie Bauer berichtet, mal sehr persönlich, dann wieder durch Aussagen von Hinterbliebenen, denn einige der Redner sind bereits verstorben, belegt, schleicht sich manchmal das Gefühl ein, es seien nur Mutmaßungen. Bei aller Chronologie der Ereignisse fasziniert, und hier spiegelt sich auch bereits das Untergangsszenario der DDR, dass in diesem Staat zwar alle gleich sein sollten, aber einige waren eben gleicher. Natürlich kann ich als privilegierter Schriftsteller von einem anderen Sozialismus oder einem „dritten Weg“ sprechen, wenn ich per Dauervisum sowieso schon immer in den Westen reisen und mir ohne Beeinflussungen ein Bild machen konnte. Kleinlich aus heutiger Sicht? Sicher, aber noch heute lösen bestimmte Informationen tiefe Verletzungen aus, die für andere unverständlich und irrational sind. Natürlich fragt man sich, warum Christa Wolf, wohlgemerkt mit ihrer Tochter vor Mauerfall, nach Westberlin mal eben so fahren kann, um Kontakt zu westdeutschen Journalisten aufzunehmen. Die Angst vor einem Gewaltausbruch nach chinesischem Vorbild war groß, der Einsatz der Autorin löblich und doch verwundert diese Aktion. Jedem „normalen“ DDR-Bürger hätte dieser Westkontakt den Hals gebrochen. Mag am 4. November kurzzeitig eine Schleuse aufgegangen sein, die Heuchelei jedoch blieb und nicht nur die auf der Seite der verbohrten Machthabenden. Ein Land von Widersprüchen geschüttelt, gelenkt von Willkürherrschaft und wirtschaftlich schwach musste untergehen. Aber auch die Menschen, die nicht über einen Ausreiseantrag, die lebensgefährliche Mauer, Ungarn oder die CSSR abgehauen sind, hatten viel zu sagen. Dass sie oftmals diffamiert wurden, zeugt, und davon konnte man sich nach dem Mauerfall ja überzeugen, von einer maßlosen Überheblichkeit der nun neuen Machthaber, deren Ansichten und der angeblich so freien Medien. Auch Helmut Kohls Verhalten in Berlin aus dem Blickwinkel von Jens Reich und dessen Frau gespiegelt, spricht Bände.

Es ist so qualvoll schwierig, wirklich differenziert und gerecht von den Geschehnissen zu sprechen, wenn im Hinterkopf, und hier kann das Buch von Patrick Bauer nicht ins Detail gehen, die Erinnerungen mit neuem Wissen in dreißig schnell gelebten Jahre noch mitschwingen.
Aber, keine Frage, Patrick Bauers Blick hinter die Kulissen des 4. November und sein Schnelldurchlauf bis heute frischt die Erinnerungen auf und bleibt ein Zeitzeugnis und für jeden interessant, der sich kritisch mit diesem Herbst 1989 beschäftigen will.

Mag niemand traurig sein, dass die DDR untergegangen ist, die Zuversicht auf ein besseres Land jedoch ist beim Großteil der Beteiligten nach dem 4. und 9. November im Sand versickert.