Susan Juby: Der Tag, als wir begannen, die Wahrheit zu sagen, Aus dem Englischen von Eva Hierteis, cbj, Verlagsgruppe Random House, München 2015, 352 Seiten, €16,99, 978-3-570-15998-9
„An dieser Stelle halte ich es für unerlässlich, darauf hinzuweisen, dass lügen und nicht die Wahrheit sagen zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Manches ungesagt zu lassen, ist – zumindest meiner Meinung nach – das Normalste von der Welt, wenn man ein zivilisierter Mensch ist. ( Ohne Familien, die Meister im Wegschauen sind, wäre Kunst am Ende gar nicht möglich.)
Dawn Weintraub – Lee, Neil Sutton und Normandy Pale sind Schüler an einer Highschool für schöne Künste, der Green-Pastures- Akademie in Vancouver Island. Alle drei sind Freunde und haben sich ein Projekt zu eigen gemacht, dass nicht unumstritten ist. Sie bilden die Wahrheitskommission, die diskret mit Informationen umgehen kann und die Befragten so auf ihre Schwierigkeiten und mögliche Lösungen hinweist. Jedes Mitglied muss sich trauen, einer Person der Schule eine Frage zu stellen, in der Hoffnung eine wahre Antwort zu erlangen. Aber was ist eigentlich Wahrheit und vor allem, warum sollte man dieser verpflichtet sein?
In den Zeiten der modernen Medien kann man sein, wer man will, zumindest virtuell.
Alles beginnt mit Aimees Renovierungsarbeiten, die sie an ihrem Körper hat vornehmen lassen. Wer traut sich, sie auf die neuen Brüste und die neue Nase anzusprechen? Will sie überhaupt darüber reden?
Der forsche Neil hat den richtigen Instinkt und erkennt, sicher will sie davon erzählen und an ihn nach diesem Gespräch auch noch eine SMS nach der anderen schicken.
Norm hat nicht so viel Mut. Sie schafft es nicht, den faszinierenden Bildhauer Tyler Jones zu fragen, ob er nun schwul ist oder nicht.
Was bringt es, wenn man die Wahrheit fremden Menschen entlockt? Bringt sie einen wirklich weiter? Was soll Brian Forbes mit der Frage, ob er nun drogensüchtig ist oder nicht? Wird er sich nach Norms vorsichtiger Frage eine Enziehungskur anstreben? Und natürlich bleibt die Frage, welche Wahrheit vermittelt Norm ihren Lesern durch ihr Schreiben?
„Durch das Schreiben erschafft man wohl oder übel seine eigene Wahrheit.“
Norm macht im Rahmen eines Projektes aus den Erlebnissen einen Essay, der von einer Dozentin für kreatives Schreiben betreut wird. Kapitel um Kapitel schildert sie die Ereignisse, kommuniziert über die eingefügten Fußnoten mit ihrer Lehrerin, fügt Querverweise zu anderen Autoren und deren Werken ein. Der Fragerei, ob diese nun zu einem angenehmen oder peinlichen Gespräch führt, folgen ganz unterschiedliche Ergebnisse und die Erkenntnis, dass Neil und Norm sich mehr mögen als nur Freunde es tun.
Ohne es zu ahnen, hat Normandy, die die Erzählerin dieser Geschichte ist, die größte Lügnerin zu Hause in ihrem begehbaren Kleiderschrank zu sitzen. Keira, Norms Schwester, ist die bekannteste Absolventin der G.P. – Akademie. Sie ist eine berühmte Graphic-Novel-Künstlerin. Allerdings karikiert sie in ihrem Doppeluniversum-Comic ihre eigene Familie. Keira vermarktet die peinlichsten Familienstorys und niemand traut sich wirklich, seinen Protest über die Diana – Chroniken zu formulieren. Und doch, die sechzehnjährige Normandy fühlt sich der Wahrheit verpflichtet und wie schwer es ist, dieser auf die Spur zu kommen, davon erzählt sie in ihrem ebenfalls für die Schule verfassten Essay. Einst ist klar, Norm haben diese Befragungen und ihre eigene Geschichte mit Keira völlig verändert. Sie ist nicht mehr das zurückhaltende Mädchen, dass nur die Augen rollen kann, wenn ihre Familie wieder den Kopf in den Sand steckt. Ihre Talente als Stickerin und Schreiberin entfalten sich prächtig, allein durch ihre Recherchen Keira betreffend.
Spannender Erzählfluss über die Wahrheit, ihre Tücken und die Befreiung, endlich das sagen zu können, was man denkt.
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