Tom Avery: Der Schatten meines Bruders, Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2014, 143 Seiten, €12,95, 978-3-407-82049-5

„Und da wusste ich, dass die Narben heilten. Dass es wieder gut werden konnte. Da wusste ich, dass ich so weit war.“

Die elfjährige Kaia erzählt ihre Geschichte. Sie wird von ihren Klassenkameraden, sogar von ehemaligen Freundinnen als „Idiot“ oder „Freak“ bezeichnet. Sie nimmt es hin, fühlt nichts, denn sie ist „für immer tiefgefroren“ seit diesem einen Tag.

Kaias Mutter gibt sich und ihren Kummer dem Alkohol hin. Nach und nach erfährt der Leser, dass Kaias Bruder Moses tot ist. Hat er sich getötet? War es ein Unfall?

Es bleibt vorerst offen. Kaia hat sich in eine Außenseiterposition manövriert, nachdem niemand, weder der Lehrer noch die Freunde wußten, wie sie mit ihr und ihrer Trauer umgehen sollten. Als der seltsame, emotional zügellose Mitschüler in die Klasse kommt, den alle für gestört halten, denn er trägt abgerissene Klamotten und verbreitet Angst, findet Kaia durch ihn wieder ihren Halt. Er spricht nicht, hört Kaia aufmerksam zu und zeitweilig ist man als Leser nicht sicher, ob es ihn als Seelenverwandten wirklich gibt oder ob er nur eine Fantasieprodukt des Mädchens ist. Der Junge knurrt die anderen an, besonders Dev, der absolut fies zu Kaia ist.

Kaia kommt wie die Mutter mit ihrem Schmerz um den Verlust des Bruders nicht klar, der Selbstmord begangen hat.
In ihr Schulheft, in das eigentlich tagebuchartige Eintragungen als Hausaufgabe geschrieben werden sollen, landen ihre Erinnerungen und Reflexionen über ihren geliebten Bruder und ihren Kummer.
Langsam beginnt Kaia wieder ins Leben zurückzukehren, sie taut auf, stellt sich all ihren inneren Fragen und kümmert sich neben dem Schulpsycholoen Harry um den rätselhaften Jungen. Kaias Mutter besinnt sich und versucht ebenfalls, ohne Alkohol den Tag zu überstehen.

Kaias Freundinnen nehmen wieder vorsichtig Kontakt zu ihr auf und erkennen, wie der Lehrer Mr Wills, dass sie ihr einfach nicht genug Zeit zum Trauern gegeben haben.
Kaia öffnet sich der Klasse, indem sie nach langer Zeit wieder eine Hausaufgabe ernst nimmt und ein Sachbuch über Bäume vorstellt, dass ihr Bruder ihr geschenkt hatte.

Der englische Autor Tom Avery schreibt in seinem schmalen Büchlein über Gefühle, die schwer auszuhalten sind. Kaia drückt sie nicht weg, versucht nicht so zu tun als würde sie wieder funktionieren. Die Umwelt erwartet das von ihr, aber sie verweigert sich, um den Preis für nicht normal gehalten zu werden. Sie schafft es mit Hilfe des wunderlichen Jungen, der sie nonverbal zu verstehen scheint. Diese Geschichte klingt lang nach, denn sie lässt vieles offen und das macht sie so wertvoll.