Stefan Slupetzky: Der letzte große Trost, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2016, 256 Seiten, €19,95, 978-3-498-06152-4
„ Mit dem Aufwühlen seiner schlummernden Gefühle legte er nun Schicht um Schicht auch diese beiden Jahre frei. Mit seiner Rückschau auf das Leben weckte er unweigerlich den Tod.“
1997: Der etwas phlegmatische Daniel Kowalski hat sich trotz künstlerischer Ambitionen nun als routinierter Fotograf in seinem Leben eingerichtet. Er hat Marion geheiratet, zwei Kinder bekommen und seinen zwei Jahre älteren Bruder nach Amerika verabschiedet als seine Mutter einen Hirnschlag erlitt. Regelmäßig besucht er sie im Pflegeheim während sein Bruder in den USA seine Karriere verfolgt. Der Vater ist bereits vor 17 Jahren verstorben.
Gewohnt hat die Familie einst im Haus am Weidlingbach und daraus entwickelt sich eine Geschichte, die die Familie Kowalski und die Familie Sander schicksalhaft verbindet und in die Zeit des Nationalsozialismus zurückgeht. Verdienen die Kowalskis mit ihrer Chemiefabrik am Krieg und dem Leid der Juden, so erleben die Sanders unermessliches Leid. Sie verlieren als jüdische Familie Angehörige in den Konzentrationslagern, fliehen nach Israel und auch dort widerfährt ihnen Trauriges. Zurück bleibt nur die Urgroßtante Ruth, die eines Tages an die Mutter von Daniel schreibt. Als diese ihren Mann, Paul Kowalski, der von der eigenen Familie enterbt wurde, heiratete, forderten die im Nahen Osten lebenden Verwandten sie auf, das Haus am Weidlingbach, in dem sie lange wohnen durfte, sofort zu verlassen. Die Familie übersiedelt in eine Wiener Wohnung. Georg, der ältere Bruder von Daniel, führt mit der Mutter in der Pubertät schreckliche Auseinandersetzungen. Der Vater ist für die Kinder der Fels in der Brandung, der „ruhige Zauberer“ wie sie ihn nennen. Daniel löst sich früh aus dem Elternhaus und lässt sich genussvoll auf viele Frauen, zum Leid der Mutter, ein.
Der Vater unternimmt mit jedem Sohn eine längere Reise. Mit Daniel fährt er nach Venedig. Kurz nach der Reise verstirbt der Vater noch jung an einem Herzinfakt, für Daniel ein tiefgreifender schmerzhafter Einschnitt in seinem Leben, denn der Vater war sein Seelenverwandter.
Nun hat Daniel Ruths Brief gelesen und soll aus dem Haus am Weidlingbach, ein Ort, den Daniel gemieden hat, auch um die Erinnerungen an den Vater zu vermeiden und das nicht mehr bewohnt wurde, die letzten Sachen ausräumen. Bei dieser Aktion gelangt das Tagebuch des Vaters in seine Hände. Und ein ungeheurer Gedanke macht sich breit. Daniel glaubt den Zeilen zu entnehmen, dass der Vater lebt. Wo könnte er sein und wie kann er ihn finden?
„Nein, er musste auf die andere Seite, musste in den Spiegel tauchen wie in eine glatte Wasseroberfläche, musste alles hinter sich lassen: die Angst und die Berechnung, das Künftige und das Gewesene.“
Der Plan, Daniel will seinen eigenen Tod inszenieren, um in Ruhe nach dem Vater zu fahnden.
Sprachlich exzellent mit zahlreichen Figuren, die authentisch wirken, dabei verdichtet ohne ein Wort zu viel, erzählt Stefan Slupetzky diese Familiengeschichte, die sich über Generationen erstreckt. Der letzte große Trost ist für Ruth der Tod. Doch kann es sein, dass sich ein Vater mit erwachsenen Kindern aus dem Leben stiehlt? Und vor allem, warum? Viele Fragen bleiben nach dieser Lektüre, die einen enormen Sog entwickelt, offen und somit auch Raum für Gedankenspiele zulässt.
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