Claire Lombardo: Der größte Spaß, den wir je hatten, Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2019, 719 Seiten, €25,00, 978-3-423-28198-0
„Denn sobald man von Liza und Jonah und Violet sprach, fielen einem sofort auch Wendy und Grace ein, wirklich alle Töchter samt Partner und ihrer Kinder, mit all ihren Ängsten und Fehlern, mit jeder Lüge, die sie einem jemals aufgetischt, jedem Irrtum, den sie jemals begangen hatten, und alles ließ sich natürlich irgendwie zu Marilyn zurückverfolgen – ihrer Mutter, dieser idealen Zielscheibe für alles -, und sie würde endgültig von allem überrollt werden und daran zugrunde gehen.“
Heute würde man sagen, David, er angehender Mediziner, und Marilyn Sorenson, sie irisch-katholisch, haben mit Absicht oder weil es einfach geschehen ist, in Chicago eine Großfamilie gegründet. In nicht allzu großen Abständen kamen Wendy, Violet und Liza, Grace war eher das ersehnte späte Nesthäkchen, obwohl Marilyn erst 38 Jahre alt war, da werden Frauen in Deutschland zum ersten Mal schwanger.
Zu diesem Zeitpunkt ist die extrem schwierige Wendy bereits 16 Jahre alt und schämt sich für ihre korpulente Mutter. Alles läuft eigentlich ganz gut bei den Sorensen. Sie haben ein großes Haus, einen Familienlabrador und, das ist sicher nicht immer so, David und Marilyn können nach wie vor nicht die Finger voneinander lassen. Sie lieben sich einfach, sie mögen Sinnlichkeit und Sex und sie reden über alles, was sie bewegt.
„Die Ehe, hatten sie gelernt, war ein merkwürdiges vergnügliches Machtspiel, ein behutsamer Balanceakt zwischen zwei Egos im Wettstreit und Stimmungen, die nicht miteinander harmonisieren.“
Zeitversetzt lernt der Leser aus den verschiedenen Perspektiven der Familienmitglieder die Geschichte der Sorensons von 1975 bis 2017 kennen. Nach und nach versteht er, was für Menschen die Töchter sind und wie ihr Leben verlaufen ist. Nachdem Wendy ihre äußerst schwierige Pubertät hinter sich gelassen hat, bleibt der Hass auf die Mutter und ihr beengtes Leben. Marilyn hat nach ihrer ersten Geburt das Studium an den Nagel gehängt und ist Hausfrau mit Leib und Seele geworden. Alle Töchter wollen natürlich nicht so wie ihre Eltern leben und schielen doch voller Eifersucht auf deren umwerfende Beziehung. Wendy hat extrem reich geheiratet, aber ihr Mann Miles ist früh verstorben. Auch Violet hat wohlhabend geheiratet, zwei Jungen bekommen und nun führt sie wie ihre Mutter trotz Ausbildung zur Anwältin und Berufspraxis das Leben einer langweiligen Vorstadtmutter mit Lesezirkeln, Bikram-Yoga und Wohltätigkeitsveranstaltungen, deren „Freundinnen“ nur die Oberfläche sehen und völlig entsetzt sind, als Violets kleiner Sohn im Kindergarten von seinem neuen Bruder erzählt. Violet ist nicht schwanger, denn der neue Bruder ist bereits fünfzehn Jahre alt und heißt Jonah. Violet hatte ihn als Baby, ohne Wissen der Eltern, nur Wendy war eingeweiht, zur Welt gebracht und zur Adoption freigegeben. Durch Wendys Forscherdrang wurde der Teenager aufgespürt und nun platzt er mitten in Violets perfektes Leben und sorgt für Chaos.
Liza, das Kind in der Mitte, zeichnet sich durch Gutmütigkeit und Altruismus aus. Sie hat endlich eine Professorenstelle an der Uni ergattert und ist seit zehn Jahren mit Ryan zusammen, der depressiv zu Hause herumhängt. Unfähig zu arbeiten, aber in der Lage, stundenlang Serien zu konsumieren, liegt er ihr auf der Tasche und gebärt sich wie ihr Kind. Als sie schwanger wird, sucht sich Liza Trost.
Grace ist mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alt, lebt in Portland und träumt von einem Jurastudium. Allerdings erhält sie nur Ablehnungen und lässt ihre Familie in dem Glauben, dass sie fleißig studiert. Dabei lebt sie am Existenzminimum.
In lebendigen Szenen, vielen Dialogen und Beschreibungen entwirft die heute dreißigjährige Autorin, Claire Lombardo, ( Woher hat sie diese Lebenserfahrung?) ein umwerfendes, manchmal zu harmoniesüchtiges Porträt der kleinsten Zelle der amerikanischen Gesellschaft. Allerdings muss gesagt werden, es geht in dieser Geschichte nicht prüde zu.
Da ist die egoistische Violet, die in ihrem Perfektionsdrang nicht zu sich stehen kann. Sie wehrt sich vehement dagegen, zu ihrem Sohn Jonah, der einfach nur traurig ist, weil seine Pflegefamilie nach Ecuador geht, eine Beziehung aufzubauen. Sie geht auf Wendys Angebot ein, dass er bei ihr leben kann. Jonah grätscht in jede Beziehung und bringt, ohne es zu ahnen, Bewegung in die Leben der Tanten. Violets eigene Scham, wenn sie ihrem ersten Kind gegenübertritt und ihm auch noch zeigen muss, in welcher finanziellen Sicherheit sie, ihr Mann Matt und die Kinder leben, ist exzellent beschrieben. Alle Figuren zeichnen sich durch Glaubwürdigkeit und Ambivalenz aus. Es gibt kein Schwarz oder Weiß. Matt bestärkt Violet in ihrer Distanz, denn er verspürt die Angst, dass Jonahs Anwesenheit seinen beiden Söhnen schaden könnte. Ein absolutes Fehlurteil. Jonahs Anwesenheit, ohne sein bewusstes Zutun, spült nach und nach alle Geheimnisse der Tanten ans Tageslicht, ihre Lebenslügen und Hoffnungen. Ohne Bedenken wird er von seinen Großeltern geliebt und letztendlich aufgenommen.
Trotz reichem Personal verliert der Leser nie den Überblick und taucht in eine amerikanische Familie ein, in der das Elternhaus wie ein warmer Ofen auf alle wartet, die zurückkehren wollen.
Mit viel Humor, kursiv steht jeweils, was die Figuren wirklich denken und nicht auszusprechen wagen, erzählt Claire Lombardo vom vielschichtigen Familienleben, in dem Schwestern ihre Ängste verheimlichen, aber auch Kämpfe voller Eifersucht und Selbstmitleid austragen und sich doch irgendwie nahe sind und sein werden, ein Leben lang.