Dorothy Whipple: Der französische Gast, Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, Kein & Aber Verlag, Zürich 2021, 448 Seiten, €24,00, 978-3-0369-5842-2



„Er muss schrecklich in sie verliebt sein, dachte Ellen. Er liebt mich nicht mehr. Sie wand sich bei dem Gedanken, wie töricht sie gewesen war. Im Haus herumgerannt war sie, hatte gesungen, den Haushalt geführt und sich darauf verlassen, dass er sie liebte, als das nicht der Fall war. Sie hatte sich vollkommen lächerlich gemacht, dachte sie bitter, und Louise hatte sich die ganze Zeit ins Fäustchen gelacht. Vielleicht hatten sie beide gelacht. Ellen traute Avery inzwischen alles zu.“

Alles läuft bestens. Ellen North ist mit Avery, beide Anfang vierzig, verheiratet. Beide haben zwei wohlgeratene Kinder, Anne und Hugh, und sie wohnen in einem großen Haus mit Stallungen in der Nähe von London. Avery konnte sich wie seine Geschwister nicht für die Strumpfwarenfabrik seines verstorbenen Vaters begeistern und so arbeitet er als Verleger. Sein Partner im Verlag ist der ruhige, in sich gekehrte John Bennett, Avery ist eher für die Außendarstellung des Verlages zuständig. Wie John kann auch Ellen sich nicht für die Verlagspartys begeistern. Sie kümmert sich auf ihrem Anwesen um den Garten und das Haus und wenn es sein muss, dann besucht sie ihre ungeliebte, ständig nörgelnde Schwiegermutter, die in der Nähe allein in ihrem riesigen Anwesen sitzt und wie die Queen unterhalten werden möchte. Da niemand aus der Familie so richtig Lust dazu hat, engagiert sie für drei Monate eine französische Gesellschafterin, die auch im Haushalt Miss Daley unter die Arme greifen soll. Louise Lanier aus Amigny ist die Auserwählte. Zu Anfang will Mrs. North noch ihre Französischkenntnisse auffrischen, aber bald schläft auch das ein, wenn Louise bei ihr ist. Beide Frauen sind schnell ein Herz und eine Seele, nur Miss Daley ist enttäuscht, denn Louise hat nicht die geringste Absicht, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie ist zu höherem berufen und stuft alle anderen, einschließlich ihrer Eltern für „dumm“ ein. Allerdings stößt sie mit ihrem seltsam blasierten und arroganten Benehmen bei Ellen und Avery auf Abneigung. Louise ist die Tochter eines Buchhändlers und hatte eine Affäre mit Paul, der reichsten Partie aus ihrem Städtchen. Dieser jedoch wollte oder konnte sie aufgrund ihrer Herkunft nicht heiraten. Nun schaut Louise sich in England um und bezirzt mit wenig Erfolg Hugh, als dieser seine Eltern besucht.

Niemand ist über Louises Anwesenheit erfreut, außer die alte Mrs. North. Als diese jedoch überraschend stirbt, vermacht sie ihrer Gesellschaftsdame eine große Geldsumme, Pelze und Schmuck. Louise reist wieder nach Netherford und wohnt nun bei Ellen, in der Hoffnung, dass das Geld bald ausgezahlt wird.
Ellen, die nach zwanzig Jahren Ehe kaum auf ihr Äußeres achtet, bemerkt nicht, wie Louise beginnt Avery, dem das schmeichelt, zu umgarnen.

Dorothy Whipple deutet in ihrem Roman an, dass Ellen und Avery in getrennten Betten schlafen und sie freudig ihr Haupt nach getaner Arbeit auf das Kissen legt. Auch die körperliche Annäherung von Louise und Avery wird nicht im Detail geschildert. Als jedoch Ellen und auch Tochter Anne durch Zufall Intimitäten zwischen Avery und der Französin sehen, kippt die Handlung in den dramatischen Teil. Avery, der eher auf ein kleines amouröses Abenteuer aus war, trennt sich nun in einer ungeheuren Schnelligkeit, ohne ein Gespräch mit Ellen zu führen, und beginnt an Louises Seite immer mehr zu trinken. Völlig skrupellos sieht Louise nur ihre Vorteile in der Verbindung mit Avery, der gesellschaftlich immer tiefer sinkt.
Stolz und mutig verkündet Ellen, dass sie von ihrem Ex-Mann, die Scheidung folgt und auch gleich – warum auch immer – die unvermeidliche Heirat mit Louise, kein Geld annehmen wird. Sie muss ihr Haus verlassen und Arbeit suchen, was ihr auch gelingen wird.

Wie ein Märchen mutet aus der Vogelperspektive diese Geschichte an. Eine bitterböse Hexe dringt in das Reich der Glücklichen und sprengt die Familie North in tausend Teile. Sie schnappt sich den König und wird mit ihm nicht froh und ehrbar, da sogar die Hexeneltern ihre Tochter verfluchen. Der König jedoch sehnt sich heimlich nach seiner Königin. Auch wenn sie ihm auf hohem moralischen Pferd verzeihen würde, ist die Schlosstür längst zu, denn der Prinz und die Prinzessin hassen den Vater für seinen Fehltritt.
Vielleicht ist die Geschichte aber auch eine Beobachtung, dass die Jugend sich gnadenlos nach all den Schrecken des Krieges holt, was ihr zusteht oder glaubt, zuzustehen.

Keine Frage, Dorothy Whipple kann auf hohem literarischen Niveau erzählen, doch wirkt die Handlung ihres Romans bedingt durch die Entstehungszeit 1953 und den Zeitgeist leicht angestaubt.
Ellen emanzipiert sich und findet ihren eigenen Weg. Wirkt das Ende modern, so mutet dieser positive Ausgang doch zu gut an.
Leider sind auch die Figuren zu holzschnittartig gezeichnet. Die Französin Louise ist durchgehend nur egozentrisch, verantwortungslos, berechnend, arrogant und völlig emotionslos und Ellen bleibt die gute, treusorgende wie warmherzige am Ende Ex-Ehefrau vom oberflächlichen, schamlosen Avery, der kopflos ins Unglück rast.