Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres, Aus dem Französischen von Frank Weigand, Atrium Verlag, Zürich 2021, 335 Seiten, €20,00, 978-3-85535-113-8
„Ich war wütend auf die Liebe, weil sie mich enttäuscht hatte, auf meine Mutter, weil sie davon gesegelt war, und auf meine Eltern, weil sie tot waren. Ich war wütend auf meine Arbeit, weil sie mich langweilte, auf meine Stadt, weil sie unpersönlich war, auf mein Leben, weil es nicht meinen Träumen entsprach.“
Catherine Day, eigentlich Catherine Garant, sucht 2007 nach einem Anker in ihrem Leben. Nichts erscheint ihr mehr erstrebenswert. Seit dem Tod der Eltern plagen sie Kreislaufprobleme und die Einsamkeit. Und seit sie diesen Brief von ihrer leiblichen Mutter, Marie Garant, erhalten hat, weiß sie nicht, was sie machen soll. Catherine hatte eine glückliche Kindheit und Jugend und hat immer gewusst, dass sie adoptiert wurde. Ihre Eltern kannten Marie Garant. Die Dreiunddreißigjährige entschließt sich Montreal zu verlassen, um in die Region der Gaspésie, dem Wohnort von Marie Garant, zu reisen.
Alles beginnt allerdings 1974. Der Leser weiß, dass eine Frau auf einem Segelboot allein ein Kind geboren hat.
Im Fischerdorf angekommen, spürt die Ich-Erzählerin Catherine, dass Marie Garant von den Bewohnern des kleinen Ortes nicht gut angesehen ist. Die Fischer, außer Cyrille Bernard, sprechen schlecht über die attraktive und mutige Frau, die offensichtlich das Meer und das Segeln geliebt hat. Warum sie dieses Fernweh hatte und offensichtlich auch gern getrunken hat, weiß niemand.
Catherine als Touristin soll lieber Achate am Strand suchen, so die Meinung der Leute im Dorf.
Doch dann wird eine Wasserleiche in einem Fischernetz geborgen und die Tote ist die sechzigjährige Marie, die mit ihrem Segelboot nach zwei Jahren zurückgekehrt ist.
In welchen Konstellationen die handelnden Personen zueinander gehören, klärt sich erst im Laufe der Handlung.
Sergeant Joaquin Morales, der Ermittler aus Quebec, der an die Baie-des-Chaleurs neu in ein Haus gezogen ist, wird mit dem Fall betraut. Der zweiundfünfzigjährige Polizist stammt ursprünglich aus Mexiko, spricht aber fast akzentfrei Französisch. War es nun ein Unfall oder ist Marie Garant getötet worden?
Nach und nach gewinnt der Leser einen Eindruck von den handelnden Figuren und der herben Landschaft. Über allem jedoch schwebt eine Melancholie. Morales ärgert sich, dass seine Frau, eine Bildhauerin, sich tagelang in Montreal Zeit lässt und er mit dem Umzug allein dasteht. Er hadert mit seinem Alter, seinem Beruf und weiß nicht so recht, warum er eigentlich von der Stadt in die Gaspésie gezogen ist. Catherine ist deprimiert, denn sobald die Leiche identifiziert ist, und klar wird, dass sie die Tochter des Opfers ist, schlägt ihr seltsamer Hass entgegen. Die Fischer lamentieren über das leere Meer und der Pfarrer im Ort trinkt einfach zu viel.
Die Männer im Ort haben alle eine Meinung zur Toten. Der todkranke Cyrille Bernard trauert um Marie. Sie hat nicht ihn, sondern zwei seiner Brüder geheiratet, die allerdings kurz nach den Hochzeiten dem Sog des Meeres zum Opfer gefallen sind. So bestimmt das Meer auch die Schicksale der Dorfbewohner.
Morales verheddert sich bei seinen Ermittlungen. Er weiß zu wenig über das Leben am Meer, die Leute, das Segelboot, die Tote.
„Die Leute aus der Gaspésie sagten nur, was sie sagen wollten.“
Catherine fragt sich, wer nun eigentlich ihr leiblicher Vater ist.
Roxanne Bouchard zieht den Leser mit ihrer Art über Land und Leute zu schreiben, sofort in den Roman hinein. Es sind schon eigenwillige Typen, die Fischer, aber auch die Indianer, wie sie von den Einheimischen genannt werden, die ebenfalls zum Fischen hinausfahren.
Im Perspektivenwechsel schaut die kanadische Autorin mal aus Catherines Sicht auf die Geschehnisse und mal aus der Sicht von Morales.
Catherine wird auf der Suche nach ihren Träumen nun mit dem Boot der Mutter, die sie nie gesprochen und gesehen hat, ebenfalls in See stechen.
Im aufgewühlten Meer und in der ruppigen Landschaft spiegeln sich die Erwartungen, aber auch die Abgründe der unterschiedlichen Figuren. In immer neuen Varianten spielt die Autorin mit Meeresmetaphern und verknüpft diese gekonnt mit der spannenden Handlung.