Susan Beth Pfeffer: Das Leben, das uns bleibt, Teil 3, Aus dem Englischen von Annette von der Weppen, Carlsen Verlag, Hamburg 2012, 271 Seiten, €16,90, 978-3-551-58275-1

„Charlie, Julie und Alex sind mir völlig fremd. Wer weiß, was sie für Menschen waren, bevor das alles passiert ist. Wer weiß, was sie jetzt für Menschen sind.“

Weltuntergangsszenarien sind so alt wie das menschliche Denken: Klimakatastrophen, die Ausserirdischen übernehmen das Kommando oder die Voraussagen längst ausgestorbener Völker treten ein, so lauten die verschiedenen Fantasien, denen sich Autoren gern hingeben, wenn sie der menschlichen Seele und deren Strapazierfähigkeit auf den Grund gehen wollen.
Die amerikanische Autorin Susan Beth Pfeffer inszeniert für ihre Trilogie den Ausnahmezustand, einen Asteroideneinschlag in den Mond, ein Schauspiel, dem die Leute aus der Ferne weltweit ohne Bedenken gern zuschauen. Als Ich-Erzählerin fungiert die 16-jährige Miranda Evans. Sie lebt in Pennsylvania, schreibt Tagebuch und hält alle kommenden Geschehnisse erstaunlich objektiv fest.

Doch wie kann es sein, dass Wissenschaftler nicht vorausberechnen konnten, dass eine Veränderung auf dem Mond auch die Erde in Mitleidenschaft ziehen würde? Der Mond jedenfalls verlässt durch den heftigen Aufschlag des Fremdkörpers seine Laufbahn und rückt an die Erde heran. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Tsunamis überschwemmen die Küsten, Erdbeben erschüttern die Erde und längst erloschene Vulkane brechen aus. Die Erde scheint im Universum zu schaukeln und niemand ist vorbereitet. Die dramatische Wendung fordert Millionen Tote und jeder muss sich selbst retten, denn ein Notfallplan existiert nicht. Der Präsident, von dem zumindest Mirandas Mutter sowieso nicht viel erwartet, zieht sich nach Texas zurück und erstarrt in Hilflosigkeit.

Mirandas Mutter, eine Romanautorin, ergreift unglaublich geistesgegenwärtig die Initiative und mobilisiert die Familie. Zu horenden Preisen muss eingekauft werden, was sich über eine lange Zeit hält. Die Leute schlagen sich um die Einkaufswagen, in Kürze sind die Regale leer und Miranda kann nicht fassen, wozu Menschen in kriegsähnlichen Situationen fähig sind, wenn es um ihre Existenz geht. Über lange Zeiten fällt der Strom aus, trotz heißem Sommer droht eine Kältewelle ( das Mädchen war sich klar, dass sie nie lange Unterhosen anziehen wird, auch das soll sich ändern) und die Familien rücken zusammen. Mirandas älterer Bruder kommt nach Hause und erkennt sehr schnell die schwierige Lage. In Panikwellen versucht Mirandas Mutter ihre Angst vor dem Hunger, dem Untergang, in den Griff zu bekommen. Plötzlich reduziert sich das ganze Leben nur noch aufs Essen, egal um welchen Preis. Das Backen eines Brotes wird zum Ereignis. Immer wieder versuchen Miranda und ihre Geschwister die Großmutter und den Vater zu kontaktieren. Mirandas Vater lebt in zweiter Ehe mit der viel jüngeren Lisa zusammen, die schwanger ist. Alle Pläne für den Sommer gehen den Bach hinunter. In einer Szene offenbart sich die Verzweiflung der gesamten Situation. Matt, Mirandas älterer Bruder, bricht zusammen, da der Vater all seine Kraft der neuen Familie widmet und nicht seinen Kindern. Das Hohelied auf den Zusammenhalt der Familie verkündet bereits Mirandas Mutter und provoziert dadurch viele Konflikte mit ihrer Tochter, die immer noch über den Tellerrand hinaus sehen kann.

Im zweiten Teil „Die Verlorenen von New York“ führt die amerikanische Autorin den Leser in das zeitgleiche Szenario mitten nach Manhattan. Wieder wendet sie den Blick vom großen Ganzen ab und konzentriert ihr Handlungsgeschehen auf das individuelle Schicksal einer kleinen Gemeinschaft, der sehr religiösen, puertoricanischen Familie Morales. Der 17-jährige Alex übernimmt nach dem Einschlag des Asteroiden die Verantwortung für seine zwei jüngeren Schwestern Bri und Julie. Scheute sich die Autorin im ersten Band davor, dem Leser drastische Szenen vor Augen zu führen, so geht sie im zweiten Teil bis an die Schmerzgrenze. Immer noch hoffend, die Mutter zu finden, der Vater ist wahrscheinlich beim Besuch in Puerto Rico von der Flutwelle erfasst worden, schaut sich Alex unter den geborgenen Leichen im Yankee-Stadion um. Da Alex die Mutter nicht findet, schwindet die Hoffnung von Tag zu Tag. Eine wichtige Anlaufstelle ist für den Jugendlichen seine Kirche St. Margaret. Doch auch Pater Franco gelangt schnell an seine Grenzen. Trotz Sommerzeit werden die Temperaturen immer eisiger. Seuchen brechen aus, Ratten erobern die Straßen, Leichen werden nicht mehr entsorgt. Die Menschen sterben einen lautlosen Hungertod mitten auf der Straße oder begehen Selbstmord. Wer über Beziehungen oder wertvolle Tauschmittel verfügt, verlässt Manhattan, denn es wird vorausgesagt, dass die Insel unterspült werden wird. Zurück bleiben die Armen und Kranken. Alex ist mit der Sorge um die Schwestern, besonders anstrengend ist die eigensinnige Julie, und der sozialen Isolation völlig überfordert, denn weder die Kirche, noch ein Gott können ihm helfen. Und so überleben Alex und seine Schwestern nur durch die Geschäfte mit dem schmierigen Harvey. Mit seinem Mitschüler Kevin, der sich in einer Zeit, in der jeder nur an sich denkt als selbstloser Freund entpuppt, beginnt Alex das so genannte „Leichen-Shopping“. Schmuck, Kleidung – alles, was Wert hat, nehmen die Jungen den Toten, die auf den Straßen liegen, ab und tauschen das Erbeutete gegen Lebensmittel. Oft gelangt der ruhige Alex an einen Punkt der totalen Hoffnungslosigkeit. Aber Alex gibt, trotz aller Rückschläge, nie auf und das wirkt in einer lebensfeindlichen Umwelt fast übermenschlich.

Im dritten Teil „Das Leben, das uns bleibt“ führt Susan Beth Pfeffer alle Figuren zusammen. Wieder wird aus Mirandas Blickwinkel erzählt. Noch lebt die Familie in ihrem Häuschen. Die Mutter verlässt das Haus nie, denn so hofft sie alles zusammenzuhalten. Von der Stadt erhalten sie immer wieder Verpflegungsbeutel und doch reicht das Essen nie für vier Personen. Eines Tages stehen Mirandas Vater, Lisa mit dem Baby Gabriel, Julie, Alex und Charlie vor der Tür. Bei allem Misstrauen nimmt Mirandas Mutter die kleine Gruppe auf. Auch wenn Matt und Jon tagelang gefischt haben, nie würde der Vorrat für alle reichen. Miranda lernt im Laufe der Zeit Alex immer näher kennen. Scheinbar kann er nie lächeln, ist in sich gekehrt und oft schweigsam. Als sie mit ihm fremde Häuser nach Nahrung durchsucht, erkennt sie seinen starken Willen und seine Kraft. Sie verlieben sich und doch will Alex Julie in ein Kloster bringen und danach selbst zu den Franziskanermönchen gehen. Seinem Bruder Carlos, der bei den Marines ist, hat er es versprochen. Aber Pläne in diesen ungewissen Zeiten schmieden, ist sinnlos.

Alle Figuren haben sich verändert, die extremen Lebensbedingungen lassen die Jugendlichen schnell erwachsen werden. Jeder übernimmt für sich und andere Verantwortung, sucht nach seinem persönlichen Glück und hofft doch nicht mehr auf Wunder. Wie die Menschen, die noch am Leben sind, ihre Zukunft gestalten werden, bleibt offen. Auch hat man beim Lesen des dritten Bandes das Gefühl, die Autorin führt die bekannten Figuren zwar zusammen, aber sie ist auch hilflos, wenn es darum geht zu erzählen, wie ein Leben unter diesen Bedingungen in Kälte, Dunkelheit und Hunger weitergehen soll. Zwar gibt es noch Auseinandersetzungen innerhalb der kleinen Gruppe, aber diese sind in Anbetracht von Tornados und nahendem Tod fast bedeutungslos.

Beim Lesen von Susan Beth Pfeffers Endzeitthriller empfindet man keine Lust am Schrecken, sondern nur das blanke Entsetzen. Nie geht es um spektakuläre Effekte, der Roman überzeugt durch die enorme Kraft seiner Hauptfiguren und die wirklichkeitsnahe Darstellung der bedrückenden Atmosphäre im Angesicht des Todes.