Bethan Roberts: Das Kind der Anderen, Aus dem Englischen von Astrid Gravert, Verlag Antje Kunstmann, München 2016, 317 Seiten, €22,00, 978-3-95614-121-8
„Manchmal war es Nula so vorgekommen, als müsse sie sich bücken, um ihr eigenes Kind zu verstehen, während Maggie immer schon da war, auf gleicher Höhe mit ihm, und auf die geringste Veränderung seiner Stimme oder seines Gesichtsausdrucks achtete. Wenn sie so empfand, sagte sich Nula, dass sie neurotisch war und dass es Maggies Job als professionelle Kinderbetreuerin war, sich auf Samuel einzustellen, auf ihn eingespielt zu sein. Es ist ein Unterschied, hatte sie sich gesagt, wenn es nicht dein Job ist, sondern deine Pflicht.“
Nula ahnt, dass ihre Sicht auf die Mutterschaft irgendwie nicht stimmen kann. Seit Samuel auf der Welt ist, fühlt sich Nula deprimiert, immer nah am Wasser gebaut, seltsam allein. Ihr Mann Greg ist keine große Hilfe für sie, die Ehe nicht glücklich. Und dann steht ihre Cousine Maggie vor der Tür und will sich beruflich um ihren Sohn, da ist er sechs Monate alt, kümmern. Endlich kann sie das Haus verlassen, wieder arbeiten, sich allein mit anderen treffen. Maggie geht in ihrer Arbeit auf, auch wenn sie von Nula kontrolliert und gemaßregelt wird. Sie schafft es einfach nicht, eine professionelle Distanz zu den Kindern, die sie betreut zu finden. Sie will gebraucht werden, benötigt die Wärme der kleinen Körper, die sich an sie schmiegen.
Den Kontakt zur eigenen Mutter hat Maggie abgebrochen, besonders als sie ihr mitteilen musste, dass sie das Studium in Oxford nicht beenden wird. Sie sucht die Nähe zu ihrem Bruder Joe, aber er igelt sich ein.
In Erinnerungsschüben weilt Maggie in der Vergangenheit, sieht die langsam zerfallende Familie. Die Mutter geht fremd, der Vater macht sich rar. Sie ziehen auf eine walisische Insel, um von der Landwirtschaft zu leben. Maggies Mutter ist unglücklich und als Ralph, der verhasste Bruder ihres Mannes, auf die Insel kommt, um zu malen, wiederholen sich die Muster. Ralph bringt Nula mit, die Cousine, die sich für etwas Besseres hält und mit Joe eine sexuelle Beziehung eingeht. Maggie, jetzt 16 Jahre alt, ist mehr als eifersüchtig. Sie möchte Malerin werden und verbringt viel Zeit bei Ralph, aber auch er beachtet sie kaum, bittet sie nur für ihn nackt Modell zu stehen. Nula ist schwanger, Ralph, und das entdeckt Maggie, hat eine Beziehung zu seiner Schwägerin. Alles bricht auseinander und Maggie hat das Gefühl, als ihr Vater geht, sie ist völlig allein.
Nach einer längeren Zeit bei Nula und Greg geschieht genau das, was Maggie wie immer befürchtet. Nula plagt das schlechte Gewissen, auch sie ist eifersüchtig auf das Kindermädchen. Samuel soll in den Kindergarten gehen und somit muss sich Maggie eine neue Arbeit suchen. Aber wie kann man die Gefühle zu einem Kind so schnell abstellen? Maggie spürt, wie unglücklich Nula eigentlich mit ihrem Kind ist. Sie fasst den kaum durchdachten, spontanen Entschluss, Samuel zu entführen. Sie steigert sich in die Vorstellung, dass das Kind zu ihr gehört, sie wieder heilen wird.
Es sind die immer ähnlich gelagerte Konflikte, die aufbrechen, wenn Mütter ihre Kinder langzeitig in die Erziehung fremder Personen geben. Nula holt sich keine Hilfe, aber sie ist traumatisiert und kann ihr Kind nicht so annehmen, wie es sein sollte. Dabei ist es völlig normal, dass eine Frau wieder arbeiten möchte, sich nicht nur als Mutter sehen will. Aber die Gesellschaft verweigert ihr dieses und so eskaliert diese Geschichte als Maggie glaubt, sie müsse um des Kindeswohles wegen eingreifen.
Vieles spielt in dieser einem Thriller ähnlichen Geschichte eine Rolle und doch geht es nicht um den Fakt, dass und wie eine Frau ein Kind entführt. Im Mittelpunkt stehen eher die Umstände, die dazu geführt haben und die beschreibt Bethan Roberts einfühlsam und psychologisch wie literarisch überzeugend.
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