Clare Furniss: Das Jahr, nachdem die Welt stehen blieb, Aus dem Englischen von Andrea O’Brian, Carl Hanser Verlag, München 2014, 267 Seiten, €16,90, 978-3-446-24626-3

„Aber ich kann nichts anderes denken, als dass die Ratte sich immer mehr zu einer kleinen Person entwickelt, immer präsenter und realer wird, während ich immer weiter verschwinde.“

Die 15-jährige Pearl kann es nicht fassen. Ihre Mutter bekommt ein Kind, dabei haben ihr Stiefvater, der sie, seit sie Baby ist, kennt und liebt, und ihre Mutter doch sie. Und nicht nur das, jetzt sind sie auch noch in ein renovierungsbedürftiges Haus in London umgezogen. Und dann ist Rose, die Schwester, da und Pearls Mutter ist bei der schweren Geburt gestorben. \r\nDen unheimlichen Schmerz, den Pearl nicht aushalten kann, kanalisiert sie in den Hass gegen das Frühchen um. Sie will Rose, „die Ratte“, wie sie sie nennt, nicht sehen. Pearls Vater ist völlig am Ende. Ihren Kummer und die tiefe Traurigkeit überträgt das Mädchen wie ein Geschütz auf ihre gesamte Umwelt, einschließlich auf ihre Freundin Molly. Als dann plötzlich der Geist der Mutter erscheint und Mutter und Tochter sich wie in vergangenen Zeiten so richtig schön fetzen können, beruhigt sich Pearl etwas. Sie schreibt die Prüfungen mit und gewöhnt sich langsam wieder an den Alltag. Der Vater holt seine zweite Tochter nach Hause und es wird klar, er muss wieder arbeiten gehen. Pearl soll sich um das Baby kümmern. Für sie ist das eine Zumutung. Also muss die Großmutter helfen, die jedoch zu Zeiten als Pearls Mutter noch lebte, von der Familie ausgeschlossen wurde. Angeblich war Pearls Mutter nicht gut genug für den Sohn und so herrschte Funkstille. Die Großmutter ist eine etwas exaltierte, aber zupackende Person. Pearl läuft nicht lange Sturm gegen sie.

Pearl fällt wiederum in ein tiefes Loch, denn alles dreht sich nur um Rose, die sich immer besser erholt. Das Mädchen glaubt, sie gehöre nicht mehr zur Familie und ihr Stiefvater, Rose und die Großmutter wollen sie nicht bei sich haben. Sie beginnt, nach ihrem biologischen Vater, James Sullivan, zu suchen.
Außerdem gibt Pearl ihrem Stiefvater die Schuld am Tod der Mutter, denn ihrer Meinung hat er der Mutter das Kind aufgedrängt.

Bis an die Schmerzgrenze tyrannisiert die Ich-Erzählerin Pearl ihre Familie. Ihr egozentrisches Verhalten und ihr stummes, wie lautes Schreien nach Aufmerksamkeit bringt alle auf die Palme, denn das Mädchen erkennt nicht, dass nicht nur sie um die Mutter trauert. Das Patchworkmodell scheint zu scheitern, denn Pearl manövriert sich durch ihre Verhalten in eine Außenseiterposition, die sie auch nicht mehr verlassen kann. \r\nAls Pearl dann gerade zu Weihnachten beschließt, ihren wahren Vater aufzusuchen, eskaliert die Handlung. Letztendlich wird klar, auch Pearls Mutter hatte so ihre Geheimnisse, die sie ihrer Tochter – auch als wiederkehrender Geist – nicht anvertraut. Die kleinen Alltagslügen waren ihr da schon wichtiger.

Emotional aufwühlend ohne sentimental zu werden, trotz streitbarer Geistererscheinungen, erzählt die englische Autorin aus Pearls Sicht mit einer ungeheuren Dynamik von einem Schicksalsschlag, der schwer zu bewältigen ist. Pearls auftrumpfendes Verhalten und ihr egozentrischer Tripp bekommt der Leser hautnah mit und kann ihn verurteilen oder verstehen.

Wie dann jedoch Clare Furniss es schafft, Pearl wieder in die Familie zurückkehren zu lassen, dass liest sich ebenfalls emotional aufwühlend ohne Rührseligkeit.