Ulrike Herwig: Das Glück am Ende der Straße, dtv Verlagsgesellschaft, München 2021, 256 Seiten, €15,90, 978-3-423-26284-2


„’Moppel, du musst heute noch siebentausend Schritte laufen!‘, sprengte die Fitness-App ihre Gedanken. ‚Sonst wird dass nie was mit dir!’“

Das Leben so richtig schön optimieren, achtsam sein, bewusst leben, seinen Überfluss von anderen aufräumen lassen und vor allem ans Klima denken, das sind die Maximen, an denen sich Lisa und ihre Generation abarbeitet. Vorausgesetzt sie haben genug Einkommen, um sich diesen stressigen Luxus mit ihren natürlich hochbegabten Kindern leisten zu können. Lisas Ehemann Mark entwickelt eine App nach der anderen und sie verbringt ihre Tage als Journalistin, um für die sauteure Zeitung „Harmonie durch Hygge“ ziemlich sinnlose Artikel zu verfassen. Ohne wirklich überarbeitet zu sein, kümmert sich Lisa auch noch um ihre Kinder, die achtjährige Leonie, den zwölfjährigen Ruben und die fünfzehnjährige Fiona. Und dann meckert auch noch ihre App mit ihr, wenn sie sich nicht bewegt. Lisas Eltern sind auf Kreuzfahrt und Marks Eltern machen sich einen schönen Lebensabend in Florida.

Das ist die eine Welt, in der anderen Welt lebt Elli, eine Frau um die sechzig, die froh ist, wenn sie jetzt im Herbst einen warmen Mantel in der Altkleidersammlung gefunden hat und sich von Tag zu Tag und Nacht zu Nacht im Freien mit ihrem Koffer durchschlägt. Eine Zeit lang konnte Elli unbemerkt am Flughafen leben, denn dort fällt jemand mit Koffer nicht auf und es gibt jederzeit die Möglichkeit, sich zu waschen. In ihren Erinnerungen wendet sich Elli an ihre Tochter Sarah, die sie zuletzt als Achtjährige gesehen hat. Wenn man Ellis Lebensgeschichte verfolgt, wird klar, wie es geschehen kann, dass Menschen, auch wenn sie arbeiten wollen, durch die sozialen Maschen fallen. Mögen es die falschen Entscheidungen gewesen sein oder eine Krankheit, letztendlich interessiert niemanden, warum der Penner oder die Pennerin da auf der Straße sitzt. Vor allem stören diese Menschen das Bild des schönen Scheins in Parkanlagen und bei den teuren Townhouses. Dabei kann man es Frauen eher nicht ansehen, dass sie obdachlos sind, denn sie achten auf ihre Kleidung und gewaschene Haare.
Lisas Kinder, besonders Leonie, kommen nun immer wieder am Spielplatz mit Elli ins Gespräch. Sie ist die Beobachterin, die erkennt, dass Ruben von seinen Mitschülern gemobbt wird und Fiona mit ihrem Liebeskummer nicht fertig wird und eine Dummheit begehen könnte. In dieser Zeit sitzt Lisa in der Redaktionssitzung und denkt sich wundervolle Themen zu fantastischen Familienunternehmungen aus oder fotografiert ihr zubereitetes vegetarisches oder veganes Essen, dass sowieso niemand in ihrer Familie auf dem Teller haben möchte.

Ulrike Herwig lässt nun diese beiden Lebenswelten von Lisa und Elli mal mit Ironie, mal realistischer Bitterkeit aufeinanderprallen. Klar ist, dass in den gutsituierten Kreisen Großzügigkeit an Gegenleistungen gekoppelt werden und sich soziales Denken nur in der Abgabe von dem äußert, was man sowieso nicht mehr haben möchte. Manchmal kann man wirklich leicht schmunzeln, wenn die Autorin die Lebensweise der gut dastehenden Mittelschicht mit viel Sarkasmus und dem Aufzeigen ihrer Doppelmoral beschreibt. Dass diese Geschichte ganz unsentimental auf ein gutes Ende zusteuert, freut die Leser und Leserinnen. Und es freut sie, wenn die handelnden Personen einfach mal ihr Smartphone beiseite legen und dem anderen zuhören.