Michael Christie: Das Flüstern der Bäume, Aus dem Englischen von Stephan Kleiner, Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Randomhouse, München 2020, 557 Seiten, €22,00, 978-3-328-60079-4
„Sie hatte sich die Familie Greenwood immer als ein auf Geheimnissen gebautes Haus vorgestellt, Geheimnissen, die Schicht um Schicht von weiteren Geheimnissen umschlossen wurden, und sie hatte schon seit Langem befürchtet, wenn sie sie zu eingehend untersuchte, würde sie das ganze Gebäude um sich herum zum Einsturz bringen.“
Willow Greenwood liegt mit dieser Einschätzung nicht falsch. Fast unentwirrbar verzweigt ist der Familienstammbaum der Greenwoods und dabei wird sich im Laufe der Lektüre herausstellen, dass die Brüder Everett und Harris Greenwood gar keine Brüder sind. Wer Willows wahrer Vater ist und warum Everett sie „Schote“ nennt? Alles ein Geheimnis. Warum war Onkel Everett, wie Willow ihn nennt, fast vierzig Jahre im Gefängnis? Ein Thema, dass sie in Gegenwart ihres Vaters Harris, dem wohlhabenden, an einem Augenleiden kränkelnden und von ihr so verhassten Holzunternehmer, gar nicht ansprechen. Sie hat dem Onkel jahrelang Briefe geschrieben und sie wird ihn abholen, wenn er das Gefängnis verlässt.
Michael Christie baut eine Rahmenhandlung um seine Geschichte der Greenwoods, die alle Nomen est omen, ihr Leben mit Bäumen auf die eine oder andere Weise verbringen werden. Die einen werden aus der Abholzung Kapital schlagen und handeln, die anderen werden mit dem Holz arbeiten und wiederum andere werden sie beschützen und sich um sie sorgen.
Alles beginnt im Jahr 2038. Auf einer kanadischen Insel, die die letzten Bäume beherbergt, arbeitet die Dendrologin Jacinda Greenwood. Touristen aus aller Welt besichtigen die Bäume wie eine Kathedrale. Allerdings glotzen die meisten nicht in die von Sandstürmen noch erhaltene Natur, sondern lieber auf ihr Handy. Durch den Aufstieg des Umweltnationalismus und einem Ende des freien Internets hat sich die Welt in vielerlei Hinsicht eklatant in Arm und Reich geteilt. Das allgemeine Welken befällt vielleicht auch schon die Bäume auf der Insel. Jacinda jedoch bedrücken eher ihre Schulden und ihr Job als Waldführerin, für den sie kaum noch Enthusiasmus aufbringen kann. Doch plötzlich steht ihr Verlobter, den sie vor fünfzehn Jahren der Bäume wegen verlassen hat, vor ihr und behauptet in seiner Funktion als Jurist, dass dieser Grund und Boden auf dem beide stehen, laut Erbrecht Jacinda gehört. Sie stammt von R. J. Holt ab, dem Gründer von Holtcorp und Eigner der Insel. Dokumente, Tagebuchaufzeichnungen und die Notizen einer gewissen Euphemia Baxter könnten das belegen.
Vor Jacindas innerem Auge, sozusagen zurück zu den Wurzeln, setzt sich die Familiengeschichte fast ähnlich den Jahresringen eines Baumes zusammen. Erzählt wird von Jacindas Vater Liam und seinem schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter Willow, einer Umweltaktivistin, die ihr Leben unbehaust und zum Wohle der Bäume verbracht hat. Er wird Schreiner und sich in eine Frau aus Indien verlieben, die auf ihrer Bratsche Wunder vollbringen kann. Beide werden nicht alt und so wächst Jacinda bei den Großeltern in Delhi auf. Liam vermacht dem Kind ein Farmland.
Zeitlich immer tiefer bohrt sich die Handlung in die Vergangenheit zurück und in immer neuen Varianten beschreibt der kanadische Autor, der in Vancouver lebt, den Umgang des Menschen mit der Natur und auch gegen sie. Als zwei Jungen, die nicht älter als zehn Jahre sind, nach einem Zugunglück im Jahre 1908 gerettet werden, flüchten sie in den Wald. Sie leben in der Holzhütte der Witwe Fiona Craig, deren Mann im Jahr 1893 sein Glück als Arzt in Kanada machen wollte. Die Jungen sind keine Blutsverwandten, aber das Schicksal hat sie zusammengeführt. Everett und Harris entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen. Harris entdeckt seine unternehmerischen Fähigkeiten und Everett lebt in den Tag und nutzt die Zuckerahornbäume, um ein bisschen Geld zu verdienen. Per Zufall findet er ein Baby, dass die offenbar verzweifelte Mutter in die Bäume gehängt hat.
Eine Zufallsfamilie wird entstehen, in der ein Mädchen zwar drei Väter hat, einen biologischen, einen, der sie einfach nicht weggeben kann und einen, der sie aufziehen wird. All dies wird nicht psychologisch unterfüttert und doch bleiben die Leerstellen, die sich der Leser selbst füllen muss.
Schließen sich am Ende die Kreise, so bleibt doch die Verzweiflung über das Sterben der Bäume in der nahen Zukunft.
Plagen die Bäume heute Trockenheit und Borkenkäfer, so kann es morgen schon wie vom Autor vorausgedacht das allgemeine Welken sein.
Wortgewaltig, bildstark, symbolträchtig und absolut spannend liest sich dieser opulente, unsentimentale Roman, der dem Leser auch tief ins Gewissen redet.