Anna Grue: Das falsche Gesicht ( Sommerdahls sechster Fall ), Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg, Atrium Verlag, Zürich 2016, 512 Seiten, €19,99, 978-3-85535-206-7

„Sie verstand gut, dass Pia ihn um Hilfe gebeten hatte. Der große kahlköpfige Mann mit den dunkelblauen Augen und dieser entstellenden Narbe an der Wange hatte etwas Beruhigendes. Er hörte zu. Er hörte richtig zu, als ob das, was man sagte, ihn wirklich interessierte. Als würde er zu verstehen versuchen, was man meinte.“

Es ist die Zeit der Trennungen. Dan Sommerdahl, der ja eigentlich von Beruf Texter und Werbemensch ist, hat sich nun endgültig von Marianne, seiner Frau getrennt. Obwohl er sie ständig betrogen hat, fanden beide wieder zueinander. Doch das lockere Zusammensein und vor allem Mariannes Eifersucht konnte Dan nicht mehr ertragen. Entweder richtig zusammenziehen oder wirklich trennen, das war die Entscheidung, vor die er seine Frau gestellt hat. Auch Thorp Flemming, sein alter Freund bei der Polizei, hat nach guten und am Ende nicht mehr so guten Zeiten mit Ursula den Schlussstrich gezogen. Wenn die eigene Frau einen nur noch wie einen Kranken, und Flemmig hatte Leukämie, behandelt, dann platzt einem irgendwann der Kragen. Die einen trennen sich, die anderen ziehen zusammen oder wollen es zumindest. Pia Waage, die verschlossene Kommissarin, hat ihr Glück mit Dorthe Bertelsen gefunden. Doch nun findet sie die Geliebte brutal erschlagen in ihrem Forsthaus.

Pias Vorgesetzter, Frank Janssen, kann ohne sie an dem Fall arbeiten, muss sich allerdings der Rigspoliti unterordnen. Aus Kopenhagen reisen zwei Ermittler an, Annette Poulsen und Lars Vorgelbjerg. Nach und nach verdichtet sich die Vermutung, dass Pia die Schuldige sein könnte. Es finden sich ihre Turnschuhe in der Nähe des Fitnessclubs, in dem sie trainiert. Natürlich mit Blut beschmiert, ebenso die Tatwaffe, ein Hammer. Mails tauchen auf, die zeigen wie schizophren Pias Eifersucht war.
Kurz und gut, Pia kommt in U-Haft und braucht Hilfe, die ihr Dan Sommerdahl anbietet. Haben sich die Polizisten im beschaulichen Christianssund daran gewöhnt, dass der kahlköpfige selbsternannte Detektiv sich in alles einmischt, so verbietet Annette Poulsen vehement jeglichen Kontakt zu Dan. Allerdings schaut er bei seinen Ermittlungen genauer hin und findet schnell, dank seines psychologischen Feingefühls, die Schwachstellen, die die Ermittler übersehen. Auch wenn er seine Erkenntnisse brav weiterleitet, ein Dankeschön ist nicht zu hören.

Dorthe war eine beliebte Lehrerin am Christianssunder Gymnasium. Dass sie sich aus ihrer langjährigen Ehe gelöst hatte, um mit einer Frau zusammenzuleben, hat viele Leute verwundert und ihre Mutter und ihren Ehemann extrem verärgert.
Hinzu kam noch, das Dorthe mit medizinischer Hilfe versuchte, schwanger zu werden. Aber nichts klappte. Aber dann wird bei der Obduktion des Leichnams festgestellt, das sie ein Kind erwartete. Pia beginnt langsam, ihre Freundin, die durchaus manipulieren konnte, aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Die Schüler haben Dorthe geliebt, besonders der feine, wohlbetuchte Streber Robin und die allerschönste Ditte, die für einen persönlichen Vorteil alles tat. Zwar hatte Dorthe ihre Favoriten, konnte aber auch jemanden, den sie protegiert hatte, schnell wieder fallenlassen. Eine enge Freundin war die sechzigjährige Else Forsberg. Ihr hatte Dorthe viele private Details erzählt. Und bei Else wird Dan Sommerdahl auch fündig. Sie wird ihm, ohne es zu ahnen, den entscheidenden Hinweis liefern.

Wie immer nimmt Anna Grue gesellschaftliche Konflikte aufs Korn. In diesem Roman dreht sich alles um die Macht, Ohnmacht und Eitelkeiten der sozialen Netzwerke, genutzt für betrügerische Machenschaften. Es geht um die Kompetenzen der Ermittler und die Hierarchien, die unwillkürlich zu Feindschaften innerhalb der Teams führen.

Mittlerweile ist man als Anna Grue-Fan mit ihren auch widersprüchlichen Hauptfiguren vertraut und man genießt den backsteindicken Krimi. Denn eins bleibt, der Plot ist wiedermal aufregend, gut lesbar und er ist ohne Übertreibungen nah am Leben konstruiert.