Jonathan Franzen: Crossroads, Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 826 Seiten, €28,00, 978-3-498-02008-8
„Russ hätte sich freuen sollen, dass sie so offen mit ihm redete, aber er hörte nur, dass sie die Aufmerksamkeit von Testpiloten und Herzchirurgen auf sich zog. Er war ein kleiner Gemeindepfarrer mit einer Ehefrau, vier Kindern und kaum Geld. Was hatte er sich bloß gedacht?“
Advent / 23. Dezember 1971 / fiktiver Vorort New Prospect in der Nähe von Chicago:
Hier lebt die Familie Hildebrandt. Russ und Marion Hildebrandt habe sich im Laufe der Zeit auseinandergelebt. Er empfindet seine ziemlich wohlbeleibte Frau als langweilig und kann sie kaum noch ertragen. Sie grämt sich, da sie spürt, dass sie mit Ende fünfzig kaum noch von Männern angesehen wird. Ihre größte Sünde, gerade zu Weihnachten, ist die Völlerei. Das mag sie alles ihrer Psychologin Sophie erzählen, an der Tatsache ändert es so gar nichts. Betty Hildebrandt, die einzige Tochter der Familie, ist auf der Suche nach einem College. Durch die Geldzuwendung ihrer verstorbenen Tante Shirley, Marions jüngere Schwester, kann sie vielleicht sogar ein privates College ins Auge fassen. Die Erwartung des Vaters an die Tochter war eigentlich, dass sie das Geld mit den Brüdern Clem, Perry und Judson teilt. Tante Shirley hat sich nie für die Jungen interessiert. Nur Betty wurde zu ihr nach Manhattan eingeladen und verwöhnt. Eigentlich wollten Tante und Nichte noch eine ausgedehnte Europareise unternehmen, aber der Krebs setzte Shirley ein schnelles Ende. Laut Testament soll Betty ins gute alte Europa fliegen, aber die auch eifersüchtige Marion, die nie gut über Shirley gesprochen hat, lehnt diese Reise total ab. Wenn Betty ihr Geld teilen würde, dann eher mit ihrem älteren Bruder Clement, genannt Clem, der auf die Universität geht und sich moralisch verpflichtet fühlt, als Soldat in den Vietnamkrieg zu ziehen. Mit ihrem hochbegabten Bruder Perry, der Drogen nimmt und auch vertickt, verbindet Betty eher eine Antipathie. Beide gehen mit über hundert Jugendlichen regelmäßig in die kirchliche Jugendgruppe, die sich „Crossroads“, „Scheideweg“ nennt. Rick Ambrose ist der junge Leiter und mit dem zweiten Pfarrer Russ zerstritten. Konfliktpunkt der beiden Geistlichen sind Fragen der Religion und vor allem auch der klare Unterschied der Generationen. Die Jugendlichen legen nicht so viel Wert auf Gebete. Die Zeiten ändern sich. Die Haare werden länger, neue Musikstile setzen sich durch und auch der Wortschatz ändert sich. Russ, der protestantische Pfarrer, bemerkt, dass er bei den Jugendlichen nicht ankommt. Dabei macht er sich für die Rechte der Afroamerikaner stark und fühlt sich dem indigenen Volksstamm der Navajos zugewandt.
Seine heimliche Leidenschaft gehört der sechsunddreißigjährigen Frances Cottrell, die ihren Mann, einen Testpiloten, verloren hat. Mit ihren beiden Kindern, Larry und Amy, lebt sie in der unmittelbaren, ziemlich gut betuchten Nachbarschaft und sucht nach einer Aufgabe. In der Kirche hilft sie der rührigen Kitty Reynolds und verzweifelt aber auch, da sie die Ablehnung der schwarzen Gemeindemitglieder spürt.
Jonathan Franzen hat wieder einen voluminösen Gesellschafts- und Familienroman, der der äußerst ambitionierte Auftakt zu der Trilogie „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ ist, verfasst. Alles dreht sich um das fein auseinander genommene Innenleben der Familienmitglieder und deren Beziehungen, die bis ins heute weiterwirken. Alle in der Familie, außer dem noch sehr jungen Judson, verspüren diesen Drang aus dem Familienverband auszubrechen, sich Neuem zuzuwenden. Dabei wollen sie nur gute Menschen sein und geißeln sich, wenn sie bemerken, dass sie vom Pfad der Tugend abgekommen sind, was pausenlos geschieht. Es wird unendlich viel geredet, debattiert, zerredet und es gibt immer wieder Anspielungen auf die sieben Todsünden, vor allem dem Neid, dem Hochmut, aber auch der Wollust. Natürlich drehen sich viele Dialoge um Gott, den Glauben, um moralische Fragen und die Konflikte in der Familie. Es scheint so, als seien die Anfang 1970er Jahre die Bruchstellen für den Blick in die so ganz andere Zukunft.
Konventionell und multiperspektivisch erzählt entwickelt der wohl aktuell bekannteste amerikanische Autor einen einnehmenden Erzählstil, auch wenn es immer wieder um das Thema Religion geht, dem man sich schwer entziehen kann.