Emiel de Wild: Bruder Geheimnis, Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016, 202 Seiten, €17,90, 978-3-7725-2781-4

„Das ist es also. Das hier ist es, womit ich auskommen muss: Du bist weg und es ist für alle das Beste, wenn wir dich vergessen. Ich darf nicht mehr über dich sprechen.“

Seit den Sommerferien schreibt der elfjährige Juri Briefe an den älteren Bruder Stefan. Warum muss sich Juri allein bei der Oma langweilen? Klingen die Briefe zu Beginn noch mitteilsam, so wird der Ton immer ärgerlicher. Warum kann Juri nicht mit seinem Bruder telefonieren, warum beantwortet er nicht einen einzigen Brief?
Als Juri endlich heim darf, muss er feststellen, dass die Familie in ein neues Haus weitab vom alten Ort gezogen ist. Und Stefan hat sich in Juris Augen aufgelöst, ist nicht mehr da. In seinem Zimmer stehen Kisten herum, nichts ist eingerichtet. Und was am allerschlimmsten ist, niemand redet mit Juri. Niemand hält es für notwendig, dem Kind zu sagen, was geschehen ist.

Juri bemerkt, wie oft die Eltern sich streiten. Er wird immer unsicherer, wagt es kaum noch Fragen zu stellen. Die Mutter lacht gekünstelt, wenn sie nicht antworten will oder sie erpresst ihn, indem sie ihm unterstellt, er wolle nur, dass sie weint.
Dann endlich ein Wort vom Vater. Stefan habe etwas Schlimmes getan und es sei besser, wenn Juri ihn vergessen würde, denn Stefan brauche den Bruder nicht mehr.

Für alle in der Familie ist der Bruder von Juri tot.

Als Juri dann in der neuen Klasse über sich erzählen soll, findet er keine Worte und er behauptet er habe keinen Bruder. Was ja irgendwie stimmt und auch wieder nicht. Das schlechte Gewissen martert den Jungen, der sich an den Bruder in jeder Sekunde erinnert und an das denkt, was sie einst verbunden hat.
All dies berichtet Juri in seinen Briefen an den Bruder, die er weiterhin schreibt, um mit ihm in Kontakt zu bleiben.
Und doch, die Eltern können nicht alles totschweigen. Als eine neue Mitschülerin mit ihrer Neugier in Juris Haus eindringt, entdeckt Juri sogar Fotos vom Bruder im Schlafzimmer der Mutter.
Nach langer Qual ist die Mutter, die mal depressiv, dann wieder hyperaktiv, nicht mehr in der Lage, trotz allen Bemühungen nun alles richtig zu machen, zu schweigen.

Sie schreibt in einem Brief an ihren Sohn, was wirklich geschehen ist.

Der erwachsene Leser ahnt, dass Stefan eine grausige Tat begangen hat und nun weggesperrt wurde, was ab und zu anklingt. Als Juri weiß, was geschehen ist, will er keinen Bruder mehr haben. Er schweigt ein Jahr lang.

Stefans Eltern haben den Kontakt zum Kind nie abgebrochen. Der Vater besucht den Sohn, die Mutter hat es nur einmal geschafft.

Die Tat hat die Familie von einer Sekunde zur nächsten aus allen Bahnen geworfen.

Die Entscheidung alles zu verschweigen, um den jüngeren Sohn zu schützen, ist völlig schiefgelaufen. Juris Eltern trennen sich und Juri lebt weiterhin beim Vater. Er redet endlich offen mit dem Sohn, der mittlerweile nichts mehr von den Eltern erwartet.

Emiel de Wild hat eine aufwühlende Geschichte geschrieben, die das Innenleben eines Kindes zeigt, dass die Lügen der Eltern, aber auch Verwandten offenlegt und gleichzeitig nach Antworten sucht. Kann ein Kind so schreiben, diese Frage stellt sich nicht, denn der niederländische Autor kann durch diesen stilistischen Trick den Leser nah an seinen Protagonisten heranführen. Jegliche Kontaktaufnahme zwischen den Figuren erfolgt per Brief und offenbart so mehr als ein Gespräch.