Eva Sichelschmidt: Bis wieder einer weint, Rowohlt Verlag / Hundert Augen, Hamburg 2020, 476 Seiten, €22,00, 978-3-498-06293-4
„Der Tagesablauf im großelterlichen Haushalt, die festen Essenszeiten und alten Rituale, in diesem Gerüst heilten die Alltagswunden über das Wochenende ab. Doch der innere Frieden hielt immer nur bis zum Abschiedskuss. Dann ging der Belagerungszustand aus schlechten Noten, den Anfeindungen der Klassenkameraden und Vaters willkürliche Bestrafungen und unvorhersehbaren, mich überfordernden Liebesbekundungen wieder von vorn los.“
Suse bekommt vom Großvater, wenn er sich seinen Mittagsschlaf genehmigt, ein Stück Kinderschokolade. Dabei mag sie diese gar nicht mal so sehr. Die Schnapspralinen, die der Opa isst, schmecken ihr viel besser. Der Großvater, der als Augenarzt arbeitet, legt sich ohne Hose, aber mit Hemd ins Bett. Er bewegt sich kaum beim Schlafen, damit das Hemd nicht knittert. Wenn der Großvater von Suse redet, spricht er immer vom Es, eine ungewöhnliche Art und Weise mit nahestehenden Menschen umzugehen. Es sind diese kleinen Details, die beim Lesen dieses Roman einfach im Gedächtnis haften bleiben. Die Großeltern von Suse lieben das Ritual des Kaffeetrinkens, das abendliche Fernsehen und die Ruhe im Besonderen.
Eva Sichelschmidt erzählt in ihrem Roman aus zwei Perspektiven, die in sich verschachtelt sind und doch chronologisch aufeinander zulaufen. Zum einen berichtet Suse aus der Ich-Perspektive von ihrer wechselvollen Kindheit bei den Großeltern in einer Kleinstadt. Erst als sie schulreif ist, muss sie beim fremden Vater, der eine Firma leitet, und der garstigen sieben Jahre älteren Schwester Asta leben. Auf der zweiten Erzählebene geht es in der Adenauer-Zeit um das Kennenlernen und die wenigen Ehejahre vom wohlhabenden Wilhelm und der bildschönen Inga, den Eltern von Suse und Asta. Inga wird mit dreißig Jahren an Leukämie sterben. Da ist Suse gerade mal zehn Monate alt. In finanziell sicheren Verhältnissen landet Inga allerdings in einer langweiligen Ehe.
„Letzten Sommer hat sie den ersten Platz bei der Wahl der ‚Miss schönsten Beine‘ belegt und als Preis acht Paar Feinstrumpfhosen der Marke Triumph nahtlos mit nach Hause genommen. Doch nicht nur ihr Liebreiz, neuerdings Charme genannt, ist es, was Wilhelm begeistert. Ihr Vater hat studiert. Sie stammt aus einem Arzthaushalt, in dem man klassische Musik hört und nicht den Wetterbericht. Sie sind füreinander mehr als nur eine gute Partie. Sie hat den Stil und er das Geld.“
Wilhelm baut fernab von seiner Mutter, die einer Freikirche angehört, ein neues Haus. Inga und die Schwiegermutter können sich nicht ausstehen, Inga verliert durch Wilhelms lässigem Umgang in Erziehungsfragen den Kontakt zu ihrer Tochter Asta. Alle Hoffnungen setzt Inga nun auf das zweite Kind und muss sterben.
Suse spürt die Liebe der Großmutter, aber über Gefühle spricht niemand. Immer wenn die Großmutter verunsichert ist, reagiert sie besonders streng. Suse muss in ihrer Kindheit Ohrfeigen, Prügel von älteren Kindern und sogar die Schläge des späteren Freundes vom Vater ertragen. Nie setzen sich die Erwachsenen für das eigenwillige Kind ein, immer wird Suse, auch vom Vater, vermittelt, dass sie die Schuldige in jeder Situation ist. Offenbar an Legasthenie leidend, greift niemand ein, als klar wird, wie schwer Suse es in der Schule hat. Oft allein gelassen, bedient sich Suse beim Alkohol. Immer wenn sie Vertrauen zu Erwachsenen fasst und Zuneigung erhofft, wird sie vor den Kopf gestoßen.
Auch das Leben mit den Großeltern ist gekennzeichnet von rigiden Regeln und Erwartungen, die Suse nicht erfüllen kann. Spannend ist dieser Blick auf den Umgang mit Kindern, die nebenher laufen und sich den Regeln der Erwachsenen ohne lange Diskussionen unterzuordnen haben. Niemand fragt sie nach ihren Wünschen und so suchen sie sich die Freiräume und Verbotszonen. Völlig fremd ist den Großeltern Enkelin Asta, die diese feindlich wie Fremde behandelt. Auch das Verhältnis zwischen dem Vater Wilhelm und den Schwiegereltern ist nicht herzlich. Ohne das Kind darauf vorzubereiten, muss Suse ab der ersten Klasse beim Vater, dessen Launen und Lügen für den Leser unerklärlich bleiben, wohnen. Dass er ein Geheimnis hütet, ahnt das Kind schon lang.
Geprägt ist die Kindheit von Suse aber auch durch den Medikamentenmissbrauch des Vaters und seine Unfähigkeit, die Firma durch Krisen zu führen. Immer ist der Bruder von Wilhelm, Albert, der bessere Sohn, obwohl sich dieser nie um die Mutter kümmert. Suse wird an den Wochenenden bei den Großeltern nie verlauten lassen, wie schwer ihr Leben in der Woche mit dem unberechenbaren Vater, der ab und zu gemeinen Asta und den Quälereien in der Schule ist.
Bereits Inga spürte, dass Wilhelm sie mit Lügen abspeiste und von angeblichen Reisen nach Kanada erzählte. Dabei hielt er sich mit seinem Freund Uli in der Stadt auf.
Zwischen einem Leben in der Villa des Vaters, ausreichend Alkohol und Einsamkeitsgefühlen schwankt Suses Leben hin und her. Wenn sie keine Freundin hat, dann behauptet der Vater, es müsse ja an ihr liegen. Seltsam starr wirken all diese Lebensmodelle in der Adenauer-Zeit und auch später. Die Geheimnisse lüften sich langsam im Laufe der Handlung, als die homosexuellen Neigungen des Vaters und sein Hang zu Depressionen nicht mehr verborgen bleiben. Nur das schwesterliche Verhältnis zwischen Asta und Suse wendet sich zum Positiven.
Am Ende ist der Vater gestorben, das gesamte Vermögen dahin und die dysfunktionale Familie völlig zerfallen. Aus dem Innenleben geschildert, besticht Eva Sichelschmidt durch die detailgenauen Beschreibungen der Familienszenen, die widersprüchlichen und doch auch liebenswerten Figuren, die sicher auch autobiografisch eingefärbt sind.