Sara Kadefors: Billie – Abfahrt 9:42, Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger , Urachhaus, Köln 2017, Seiten, €14,90, 978-3-8251-5111-9
„Zu Hause gehört mir nur die Ecke, in der mein Bett steht. Ich habe noch nie einen Schreibtisch gehabt. Außerdem herrscht bei der Familie Persson eine ganz komische Stimmung. Als träten alle in einer Fernsehsendung auf. Ich wünsche mir, dass die Kameras ausgeschaltet werden und alle wieder sie selbst sind.“
Billie ist es gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sie ist zwar erst zwölf Jahre alt, aber sie kennt keine Regeln, keine Strukturen und schon gar keine Vorschriften. Emotionen erlebt sie nur in ihren Fernsehserien. Als Pflegekind kommt Billie zur Familie Persson. Es ist schon eine Umstellung von Stockholm ins ruhige, kleine, sehr übersichtliche Bokarp zu reisen. Dabei soll der Aufenthalt bei den Perssons nur vorübergehend sein, so lange wie sich Billies Mutter, die krank und extrem übergewichtig ist, sich wieder um sie kümmern kann. Billie ist ein frohes Kind, sie trägt Dreadlocks und singt gern lauthals vor sich hin. Bei der Familie Persson allerdings ist alles so still, die Räume sind kalt und die Atmosphäre nicht echt. Es gibt klare Regeln für die Kinder Tea, Alvar und Billie. Man fragt, wenn man vom Tisch aufstehen möchte, man meldet sich ab, es wird nicht viel ferngesehen, es gibt Familiennachmittage und Ausflüge. Billie will sich anpassen, sich einordnen, nicht auffallen. Und doch spürt sie, sie muss sich verbiegen. Sie bemerkt auch, dass die Eltern sich sorgen, wenn z.B. Tea nicht pünktlich nach Hause kommt. Aber was in den Kindern wirklich vor sich geht, scheint niemanden zu interessieren. Auf recht stille Weise wird alles richtig gemacht, denn natürlich isst man keine Chips, sondern Obst. Es werden Bücher gelesen und nicht nur im Internet gechattet. Mutter Petra, sie ist Pfarrerin, will es allen recht machen. Vater Mange erzählt ständig irgendwelche Dinge, die niemanden interessieren. Billie weiß nicht mehr, was eigentlich normal ist. Ihr Verhalten oder das was sie den anderen vorspielt? Doch dann gelangt sie hinter das Geheimnis dieser Familie. Und beginnt Klartext zu reden und verändert einiges.
In Sara Kadefors Geschichte von Billie ist nicht das Pflegekind die Ursache für die Konflikte, sondern seine „normale Umgebung“, die ihm gut tun soll, ist das Problem.
Es wird geschwiegen und nicht geredet, es werden Regeln aufgestellt, nur um der Regeln willen. Billie erkennt dies und will doch keine Streitereien provozieren.
Aus Billies Sicht erzählt die schwedische Autorin Sara Kadefors vom Leben auf dem Land, von Menschen, die Verluste nicht verarbeitet haben und anderen Gutes tun wollen.
Wie das Mädchen Billie dann jedoch von innen heraus ihrer Pflegefamilie hilft, liest sich wohltuend und nicht einen Moment sentimental oder überkonstruiert.
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