Barbara Kingsolver: Die Unbehausten, Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2025, 622 Seiten, €26,00, 978-3-423-28463-9
„Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden?“
Familie Knox ist erst vor Kurzem nach New Jersey in eine imposante, wie geerbte viktorianische Villa gezogen. Willa Knox, aus deren personaler Perspektive erzählt wird, musste ihre Arbeit als Zeitschriftenredakteurin beenden, denn ihre Zeitung, die Newsweek, ist Pleite gegangen. Dabei ahnte Willa, dass der Medienbereich alles andere als krisenfest ist, aber sie liebte es, Interviews zu führen, zu recherchieren und zu schreiben. Auch Willas Mann, Iano muss als anerkannter Akademiker und Politikwissenschaftler immer mehr Abstriche machen. Auch ihm wurde die Stelle genommen, die er, so gedacht, bis zum Rentenalter inne haben wird. Jetzt arbeitet Iano auf einer schlecht bezahlten Dozentenstelle. Dreißig Jahre sind Willa und Iano glücklich verheiratet und in ihrer Ehe hat sich eine bestimmte Rollenverteilung verfestigt, sie ist die Krisenmanagerin und er derjenige, der den Krisen aus dem Weg geht. Trotz sich häufender Probleme kann Willa vieles auch mit Humor sehen, was eigentlich alles andere als lustig ist. Im Haus der Knox‘ leben noch der extrem konservative, um nicht zu sagen rassistisch denkende Nick Tavoularis, der pflegebedürftige Vater von Iano und Tig, die sechsundzwanzigjährige, jüngste Tochter, die vorher auf Kuba wohnte. Durch den tragischen Selbstmord von Helene, der Freundin von Willas Sohn Zeke, wohnt nun auch er und sein frisch geborenes Baby Albus im Haus. Wenn Willa in ihren schlaflosen Nächten, die nicht nur vom schreienden Baby verkürzt werden, wach liegt, denkt sie an all die finanziellen Probleme, auch an die extrem teure Krankenversicherung. Hinzu kommt noch, dass ihr Haus alles andere als stabil ist. Es regnet durch und nach und nach krachen im oberen Stock die Decken ein. Willa hofft nun, dass in ihrem Haus vielleicht eine einst berühmte, aber vergessene Wissenschaftlerin namens Mary Treat, die sogar mit Charles Darwin korrespondierte, lebte. So könnte sie staatliche Denkmalschutzmittel für den Erhalt des Hauses bei der Vineland Historical Society beantragen.
Barbara Kingsolver eröffnet eine zweite Erzählebene und berichtet von den Bewohnern der Villa im Jahr 1874. Allerdings lebte in Willas Haus der Naturkundelehrer Thather Greenwood. Er legt sich mit Charles Landes an, der die christliche Freidenkerkolonie Vineland gegründet hatte. Greenwood begeistert sich für die Evolutionsideen von Charles Darwin und soll zum Schweigen gebracht werden. Für alle handelnden Protagonisten, ob nun im 19. oder 21. Jahrhundert, hat sich alles verändert. Nichts ist so, wie sie es erwartet hatten und wie es auch die Gesellschaft ihnen immer gespiegelt hat. Interessant ist, wie Barbara Klingsolver die Kapitel zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen verbindet. Die letzten Worte der Kapitel, die 1874 spielen, dienen als Überschrift für die gegenwärtigen Kapitel, die zeitlich kurz vor dem ersten Amtsantritt von Donald Trump spielen.
Willa kämpft mit Panikattacken und sie schluckt teure Medikamenten, die sie einst in den guten Zeiten gehortet hatte. Und Willa ist fast allein für Zekes Baby zuständig, der in Boston bei einem Start up Investorengelder verwaltet und selbst finanziell am Boden liegt. Sein Interesse an seinem eigenen Kind ist beschämend gering, dabei hielt Willa gerade Zeke im Gegensatz zur sprunghaften Tochter Tig für einen Menschen, der immer alles perfekt und richtig macht.
Die Welt in beiden Zeitebenen, die in den verschiedenen Handlungen betrachtet werden, gerät aktuell zunehmend aus den Fugen und schafft Platz für Verschwörungstheorien, für christliche Demagogen und feige Lügner. Das akademische Prekariat, das sich einst zum Mittelstand zählte, kann nach außen hin vielleicht noch die Fassade wahren, aber bald stürzt auch hier alles zusammen, wenn die Arbeit und die Altersvorsorge wegfallen. Das Unbehauste und die Unsicherheit ist jeder Figur in beiden Zeitebenen in diesem Roman, mal mehr mal weniger anzumerken. Doch Lehrer Thather Greenwood steht zu seinen Ansichten und lernt im Nebenhaus die unkonventionell lebende Mary Treat kennen, die sich mit Spinnen und Venusfliegenfallen beschäftigt.
Nicht ohne sprachlichen wie altersweisen Sarkasmus erzählt Willa vom ihren stressigen Alltag. Es mag das richtige Buch zur richtigen Zeit sein. Auch wenn sich nichts zum Besten entwickeln wird, rückt der Roman „Die Unbehausten“, der erstmals 2018 in den USA erschienen ist, immer noch sehr nah an den aktuellen Zeitgeist und das macht ihn so lesenswert und unterhaltsam.