Ann Patchett: Der Sommer zu Hause, Übersetzung von Ulrike Thiesmeyer, Piper Verlag, München 2024, 400 Seiten, €26,00, 978-3-8270-1503-7
„‚Wie kommt man jemals über so jemanden hinweg?‘, fragt Maisie. Womit sie sagen will, dass ich unmöglich über ihn hinweg sein kann und dass ich ihren Vater niemals so sehr geliebt haben kann wie damals Duke. ‚Wisst ihr noch, wie ihr uns früher im Sommer immer angebettelt habt, mit euch zum Jahrmarkt zu fahren?‘ Es liegt mir so viel daran, es ihnen verständlich zu machen. (…) ‚Würdest du heute immer noch hinwollen?‘ ‚Vielleicht. Kann sein‘, sagt sie, aber sie ist vierundzwanzig, genauso alt wie ich seinerzeit in Tom Lake. (…) ‚Mir ist nicht klar, warum man das eine für das andere aufgeben muss‘, sagt sie. ‚Von müssen kann nicht die Rede sein‘, belehre ich meine Tochter. ‚(…) Eines Morgens wacht man auf und hat genug vom Rummelplatz.'“
Ann Patchett erzählt in ihrem neuen Roman ausnahmsweise mal von keiner dysfunktionalen Familie, in der die Fetzen fliegen oder tiefe Geheimnisse ans Tageslicht gelangen und es geht auch nicht ums Geld oder Erben. Ausgangspunkt des Geschehens ist die Pandemie, in der auch die Familie Nelson zusammenrückt. Lara und Joe Nelson sind Kirschfarmer in Michigan. Da kaum Erntehelfer, die die Süßkirschen schnell pflücken müssen, zur Verfügung stehen, arbeiten wie in alten Zeiten die drei Töchter Emily, Maisie und Nell mit. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählt Mutter Lara von ihrer kurzen Karriere als Schauspielerin sogar in Hollywood und ihrer Liaison mit dem heute berühmten Schauspieler Peter Duke. Neben der Ich-Erzählerin, die sich in ihren Geschichten eher der Vergangenheit widmet, immer heftig von den Töchtern befragt, wird auf einer zweiten Erzählebene von der Gegenwart auch im Präsens berichtet.
So studiert die sechsundzwanzigjährige Emilie Gartenbau und Agrarwirtschaft, um später auf der Farm zu arbeiten. Und sie wird den Nachbarsjungen Benny Holzapfel heiraten. Maisie als Tiermedizinstudentin schlägt einen neuen Weg ein und Nell, die eine Schauspielschule besucht, wollte eigentlich nie wieder in ihrem Leben Kirschen ernten.
Als Emily noch in ihrer Pubertät, in der sie heftigste Wutanfälle auslebte, von Peter Duke ( die Mädchen kennen und lieben all seine Filme ) erfahren hatte, war sie der Meinung, dass nur er ihr Vater sein könne. Ziemlich gelassen hatte Joe das hingenommen. Nach all den Jahren nun erfahren die Mädchen, dass Lara als sie mit Peter Duke zusammen war, auch bereits Joe, den damaligen Spielleiter eines Sommertheaters kannte. Ein Paar wurden die Eltern der drei Mädchen allerdings erst Jahre später.
Laras Interesse fürs Schauspielern begann mit den Aufführungen des epischen Theaterstücks von Thornton Wilder „Unsere kleine Stadt“. Ihre Stärke war ihre Natürlichkeit und die Tatsache, dass sie einfach immer sie selbst war. Und so riet ihr Agent ihr auch, keinen Schauspielunterricht zu nehmen. Als dann das phänomenale Filmangebot kam, zogen sich allerdings die Dreharbeiten hin und so spielte Lara in Tom Lake auf der Bühne des Sommertheaters erneut die Emily.
Nach und nach wird klar, dass Lara kaum die geborene Schauspielerin ist, die auf Publicity und Ruhm aus war. Nell dagegen hat diese Gabe, einfach alles zu beobachten und in ihr Spiel einzubeziehen. Die Liebe zu Joe hatte Lara geerdet und all ihre Wünsche ans Leben erfüllt.
Mögen ihre Kinder andere Wege einschlagen, so finden sie doch in ihren bodenständigen Eltern einen stabilen Rückhalt, egal was geschehen wird. Hätte Lara sich bei einem Tennismatch nicht die Archillessehne verletzt, vielleicht wäre alles anders gekommen. Denn offensichtlich war Peter Dukes Liebe zu Lara nicht gerade beständig, um es milde auszudrücken. Bei allen gegenwärtigen Krisen erdet dieser Roman jeden Lesenden, denn er erzählt von den wahren Werten des Lebens, von einer Familie, in der man sich auch auseinandersetzen kann und trotzdem Freude auch an den kleinen Dingen haben kann.