John Grisham: Anklage, Aus dem Amerikanischen von Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter und Imke Wlash-Araya, Heyne Verlag, München, 512 Seiten, €22,99, 978-3-453-26909-5
„Doch es war nicht die Erschöpfung, die durch stundenlanges Lesen und Bearbeiten dicker Akten hervorgerufen wurde oder durch den ständigen Druck, jemanden beeindrucken zu wollen, oder durch die Angst, nicht gut genug zu sein und vorzeitig von der Karriereleiter gestoßen zu werden. Es war nicht die Art von Erschöpfung, mit der sie in den letzten drei Jahren gelebt hatte. Sie war ausgelaugt von einer Mischung aus Angst und Entsetzen, die sie beim Anblick echter Menschen empfunden hatte, verzweifelter Menschen in höchster Not, die wenig Hoffnung hatten und auf ihre Hilfe bauten.“
Samantha Kofer ist eine exzellent ausgebildete Anwältin aus Manhattan, die mit ihren neunundzwanzig Jahren am Beginn ihrer Karriere steht, die sie bis ins Kleinste bereits geplant hatte. Doch von einem Tag zum anderen verliert sie ihre Arbeit bei der Großkanzlei Scully & Pershing, die milliardenschwere Investitionen begleitet hat. Die Finanzkrise macht nicht nur ihr einen Strich durch die Rechnung. Dabei hat sie ihre arbeitsintensive Tätigkeit, die zwar gut bezahlt, aber nie Raum für berufliche Kreativität noch Privatleben ließ, nie geliebt. Sie hasste es, sich von Investoren anschreien zu lassen, den Konkurrenzdruck, die Arbeitslast.
Doch nun ist sie freigestellt, könnte für eine gemeinnützige Organisation arbeiten und somit ihre Krankenversicherung behalten, um eventuell in einem Jahr wieder in ihren alten Job bei Befriedung der Lage einzusteigen. Da die Ehrenamtsjobs schneller weg sind als gedacht, greift Samantha schnell bei der Praktikumsstelle in Brady, Virginia zu. Sie landet in einem Ort mit ein paar tausend Seelen, mitten in den Appalachen und einem Kohleabbaugebiet.
Dieser Wechsel von der pulsierenden Großstadt in ein Kaff am Ende der Welt bereitet Samantha doch so einige Kopfschmerzen, zumal ihr Vater, eine Anwalt ohne Lizenz, aber mit Unternehmergeist ihr eine Stelle angeboten hatte. \r\nSamantha beschäftigt sich nun mit Mandanten, die sich zivilrechtlich keinen Anwalt leisten können. Das Anwaltsbüro von ihrer neuen Chefin Mattie Wyatt arbeitet auf Spendenbasis. Ausschlaggebend für diese Praktikantenstelle war vielleicht die freundliche, unkomplizierte Art von Matti und die Neugier auf das Neue, denn nun hat Samantha es mit Scheidungen, häusliche Gewalt, Testamenten, Privatinsolvenzen, Mietrecht oder Arbeitsrecht zu tun. Dunkel kann sie sich aus ihrem Studium an einiges erinnern, aber Neuland ist das auf jeden Fall für die junge Frau.
Nach einigen Wochen begreift sie auch, dass sie nun nicht mehr nur Anwältin ist, sondern auch Sozialarbeiterin. Und Samantha wird durch den charismatischen Neffen von Matti, Donovan Gray. der sie gern auch in seiner Kanzlei anstellen würde, mit skrupellosen Fällen konfrontiert, die sich mit den Machenschaften der Kohleabbauunternehmen befassen. Diese Firmen verschmutzen nicht nur die Umwelt, d.h. Luft und Grundwasser, sie betrügen auch die Menschen, die ihr Land in der Hoffnung auf Wohlstand verkaufen. Es werden nicht nur, wenn es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kommt Politiker, Richter, Inspektoren oder Geschworene manipuliert oder geschmiert, die Kohleunternehmen gewinnen außerdem jeden Prozess. Klar ist, jegliche gesetzlich vorgeschriebene Renaturierung wird nicht vorschriftsmäßig durchgeführt und das holt die Ökoterroristen auf den Plan, die bisher nicht gefasst wurden.
An unterschiedlichen Fällen demonstriert der amerikanische Autor John Grisham wie unmoralisch die Industrie die Natur ausbeutet und die Menschen, die in Abhängigkeit leben, demoralisiert. Staublungenprozesse können bis zu zwanzig Jahre andauern. Die Klagenden erleben im seltensten Fall die Urteilsverkündung.
In all diese Themen arbeitet sich Samantha ein und sie spürt trotz ihrer Bedenken vor Gerichtssälen, die sie ja vorher nie betreten musste, wie nah ihr diese Schicksale doch gehen.
So setzt sie ein neues Testament zugunsten einer Umweltorganisation für die achtzigjährige Francine auf, die weiß, dass ihre rücksichtslose Familie, die sich nie um sie gekümmert hat, ihr Land sofort an die Kohleindustrie verhökern würde.
Sie erkämpft für eine junge Frau mit zwei Kindern, die ihren Job und ihre Wohnung verloren hat, eine Entschädigung, da ihr Lohn fälschlicherweise gepfändet wurde.
Sie setzt sich ein für Buddy Ryzer, der mit seiner Staublunge schon vor zehn Jahren hätte aufhören müssen zu arbeiten. Aber die Anwälte der berüchtigten Kanzlei hatten Beweismittel verschwinden lassen. Doch für Prozesse benötigt jeder einen finanziellen langen Atem und vor allem viel Geduld.
Mit Donovan Gray hätte Samantha vieles durchgezogen, wäre er nicht mit seinem Flugzeug ums Leben gekommen. Jeff, sein Bruder, wird versuchen nachzuweisen, dass dies kein Unfall war. Und dann existiert da noch dieses brisante Material, das Donovan und Jeff bei Krull Mining heimlich entwendet hatten, um Menschen die durch die Schuld der Kohlenfirma, die auch noch von einem Russen geleitet wird, unverschuldet an Krebs erkrankt sind, zu helfen. Das FBI mischt mit und erste Zweifel kommen auf, auf welcher Seite der Staat steht. Mitten in all den zermürbenden, aber auch erfolgreichen Verhandlungen erhält Samantha plötzlich ein Angebot ihres alten Chefs. Er macht sich mit einem Partner selbstständig und sucht nun fähige Leute, die sich in der Immobilienbranche auskennen. Die Aussicht wieder in New York zu leben, lockt Samantha und doch bleibt die Frage, kann sie ihre Mandanten einfach so im Stich lassen?
Mit Samantha Kofer hat John Grisham eine charakterstarke Hauptfigur kreiert, die bei ihren Entscheidungen und verständlichen Zweifeln absolut glaubwürdig wirkt. Geschrieben in einer schnörkellosen Sprache verfolgt der Leser Samanthas neue berufliche Wege und Irrwege, bei denen er den Glauben an die Justiz zeitweilig verlieren könnte. In einem Rechtssystem, in dem der Mensch offensichtlich nur nach seinem Geldbeutel beurteilt wird, scheinen Organisationen wie Mountain Law Clinic und engagierte Anwälte überlebenswichtig.
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