Anika Decker: Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2025, 463 Seiten, €23,00, 978-3-423-28434-9

„Und: ‚Krass, du hast ja gar keine Falten für dein Alter!‘
Ich habe keine Ahnung, wieso ich mich nicht freuen kann. Ich weiß nicht, ob das meine eigene Altersfeindlichkeit ist oder ihre, wenn ich heraushöre, dass ich für einen rumpeligen Oldtimer eigentlich noch ganz gut aussehe. Ich würde lieber einfach so gut aussehen, ohne Zusatz.“

Die hier aus der Ich-Perspektive erzählende Nina ist fünfzig Jahre alt, geschieden und hat zwei erwachsene Kinder. Ihre Wohnung im Wedding ist ziemlich klein und die Möbel und ihre Klamotten stammen zum Teil vom Flohmarkt. Das Geld ist immer knapp, doch Nina hat nach langer Abwesenheit aus der Arbeitswelt sogar noch eine mies bezahlte Festanstellung als Assistentin in einer Produktionsfirma gefunden. Im ersten Leben war sie mit Phil, einem erfolgreichen Anwalt verheiratet, der heute noch in der gemeinsamen Villa im Grunewald wohnt. Warum sie auf einen Ehevertrag verzichtet hat und sich von ihrem Ex-Ehemann so über den Tisch ziehen ließ, bleibt ein Rätsel. Nina jedenfalls scheint ihren Humor nicht verloren zu haben und ist froh, dass sie und Phil getrennte Wege gehen. Phil allerdings, hatte, der Klassiker, Nina mit der bedeutend jüngeren Lulu, die aus Ninas Sicht nur über „eine Gehirnzelle“ verfügt, betrogen und nun auch noch geheiratet. Lulu vermarktet ihre dreijährigen Zwillinge als Supermami in den sozialen Medien und genießt das Luxusleben unter Gleichgesinnten, die zu gern in ihren atmungsaktiven Yogaklamotten herumlaufen. Unverständlich, gleich zu Beginn, ist Ninas Sehnsucht nach einer funktionierenden Patchworkfamilie, zumal Phil seine älteren Kinder eher mit Geld besticht, als dass er je mit ihnen Zeit verbracht hat. Und so lässt sich Nina zur Geburtstagsparty der Kleinkinder des Ex-Mannes auch noch vor den Karren der neuen Hausherrin zum Bespaßen der jungen Gäste im ehemaligen Heim spannen. Masochismus pur! Das muss belohnt werden. Nina lernt den knackigen, wie sympathischen, allerdings zwanzig Jahre jüngeren David kennen und verliebt sich auf der Stelle.
Neben Nina schaut Annika Decker aus der personalen Perspektive auf Lenas Leben. Lena ist die jüngere Schwester von Nina und sie will nun mit ihrem Anwaltsehemann Flori alles richtig machen. Von Hannover nach Berlin gezogen passt sie sich in allem den Grunewald-Frauen an und lebt das Leben einer Frau aus den 1950er Jahren, die allerdings auf Insta alles aufsaugt, was Lulu so postet.
Karin, die Mutter von Nina und Lena, fällt eher durch ihr unkonventionelles Verhalten auf. Allerdings stauen sich in den Mutter – Töchter Beziehungen wie so oft noch Konflikte aus der Kindheit.
Neben den privaten Einblicken thematisiert Annika Decker die beruflichen Konflikte, in die Nina hineinschliddert. Der nicht mehr ganz junge Hauptdarsteller, Hotte Günther, in der Serien „Ein Fall von Glück“ der Produktionsfirma ist nicht nur ein schmieriger Berliner Typ, sondern auch jemand, der gern die jungen Darstellerinnen begrapscht und sexuell belästigt. Natürlich behauptet er, dass die Frauen mit ihm schlafen, weil sie in der Filmbranche weiterkommen wollen. Wie nun nach mehrmaligen, ernsthaften Beschwerden junger Schauspielerinnen der Medienkonzern mit unlauteren Mitteln und mit Hilfe eines Compliance-Verfahrens seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will, erfahren Nina und ihre Kollegin und beste Freundin Zeynep. Sie haben längst Material gesammelt, das Hotte Günther belasten könnte. Doch sie müssen selbst aufpassen, dass sie nicht dabei erwischt werden und nach Abmahnungen auf die Straße gesetzt werden. #Me Too scheint immer noch ein Thema zu sein.
Nina jedenfalls kämpft nun mit ihren ambivalenten Gefühlen für den attraktiven David, der auch so seine Geheimnisse hat, aber ein wunderbarer Koch ist und den Geschehnissen in der Produktionsfirma und ihren privaten Konflikten mit der umtriebigen Mutter und ihrer Schwester, die langsam erkennt, dass sie wohl den falschen Lebensweg eingeschlagen hat.
Zwischen komisch angelegten Szenen, aber auch Darstellungen aus der Filmbranche, in der doch ziemlich fies gegeneinander gearbeitet wird, und familiären Streitigkeiten bewegt sich dieser Roman, der natürlich auch als Serie funktionieren könnte. Dass im Mittelpunkt eine nicht mehr junge Frau und ihre Glückssuche stehen, mag man der Autorin hoch anrechnen.
Dass die auch ernste Handlung dann durch die Courage der Frauen, insbesondere auch Lenas Sinneswandel, auf ein Happy End zusteuert, hätte vielleicht angesichts der realen Vorkommnisse in wahren Welt nicht sein müssen.
Und doch – lesenswert!