Anne Enright: Anatomie einer Affäre, Aus dem Englischen von Petra Kindler und Hans–Christian Oeser, Deutsche Verlagsanstalt, München 2011, 320 Seiten, €19,99, 978-3-421-04540-9

„Das ist wohl die Regel: dass Leute sich irrsinnig auffällig verhalten, bevor es richtig losgeht, und lächerlich auffällig, wenn es endet, aber wenn es passiert, wenn es beschlossene Sache ist, wenn sie übereinander herfallen, dann sind sie verschwiegen wie ein Minister mit einem Konto auf den Kaimaninseln – und doppelt so aufmerksam, wenn es darum geht, alten Damen auf der Straße zu helfen.“
Familien treffen sich bei Geburtstagen, laden Freunde ein, man redet und verliert sich aus den Augen und dann auf einmal gibt es doch einen entscheidenden Moment, wo man sich wiedersieht und es mehr wird. So passiert bei Gina und Seán. Die Ich-Erzählerin sieht den charmanten Familienvater bei ihrer Schwester Fiona auf einer Party zum ersten Mal. Bereits aus den Augenwinkeln nimmt Gina Seáns Ehefrau Ayleen unter die Lupe und sein dickliches Kind Evie, dass irgendwie seltsam auf alle wirkt. Ein Intermezzo. Inzwischen heiratet die 32-jährige Gina ihren pflegeleichten Freund Conor, man bezieht ein Reihenhaus, der Job in der Internetfirma läuft.
Und dann auf einem Kongress landet Gina trotz erotischer Anziehungskraft ziemlich unromantisch mit Seán, der ebenfalls dort eine Rede hält, betrunken im Bett. Es wird sowieso sehr viel in dieser Geschichte gebechert und vor allem wenig geredet.
Gina spielt zu Beginn noch die Unbeteiligte, erzählt recht schnippisch, fast ruppig von ihrem Privat- und Berufsleben. Aus der Affäre mit Seán wird allerdings mehr. Von den Hotelbetten wechseln die beiden ins Haus der Mutter, die vor Kurzem verstorben ist. Aus der locker die Sache angehenden Gina wird fast eine Stalkerin, die das Haus ihres Geliebten beobachtet.

Und dann fliegt die Beziehung auf. Es fliegen die Fetzen, aber Gina und Seán können sich nicht trennen, obwohl die heißen Bettszenen bereits dem Alltagstrott zum Opfer gefallen sind. Gina ahnt, dass sie nicht die erste Affäre in Seáns Leben ist.
Ayleen mag ihn mit ihrer Panik um die Tochter aus dem Haus treiben, er gebärdet sich nicht anders. Das wird Gina, die die jetzt mittlerweile 12-Jährige betreuen darf und deren alleiniger Hass sie für alles trifft, schnell bewusst.
Anne Enright setzt Gina in ihrem Mitteilungsbedürfnis und ihren Gewissensbissen keine Grenzen. Mal schaut sie zurück, mal auch wieder in die Zukunft. Treffend und gut beobachtet sind die vielen, zumeist den Krisen zugedachten Sätze, die Anne Enright ihrer Alltagsheldin in den Mund legt. Der Dreh- und Angelpunkt dieser Beziehung ist das Kind, Evie. Woran leidet sie? Gina muss hinter dieses Geheimnis kommen, um mit Seán leben zu können.

Eine raue Liebesgeschichte mit Widerhaken!