Petra Hammesfahr: Als Luca verschwand, Diana Verlag, München 2018, 496 Seiten, €20,00, 978-3-453-29209-3
„Plötzlich kam sie ihm vor wie ein Häufchen Elend, das unvermittelt von der Realität überrannt worden war. Er hätte wetten mögen, dass es in Mels Welt bisher keine negativen Aspekte gegeben hatte, nur schöne, schlanke Menschen und perfekte Kinder, wie man sie aus der Werbung und diversen Fernsehserien kannte.“
In Melisande Martells Bilderbuchwelt bricht das Unheil ein. Mel wollte nur ganz kurz in den Drogeriemarkt in Bedburg gehen, nur kurz ein paar Lippenstifte ausprobieren. Aus diesem Grund hatte sie den Kinderwagen ganz gegen ihre Gewohnheit vor der Tür stehen lassen. Luca, ihr neun Monate altes Baby, war gerade eingeschlafen, eine gute Gelegenheit zum Shoppen. Max, ihr dreijähriger, sehr braver Sohn, begleitete sie. Und dann plötzlich war Luca einfach so verschwunden. Eine alte, verwirrte Frau im Poncho hatte ein paar Lollys in den Kinderwagen gelegt und auch Max einen geschenkt. Und dann war da noch dieser junge Mann, der mit der Verkäuferin flirtete.
Oberkommissarin Rita Voss, bekannt, aber nicht beliebt unter Kollegen für ihre treffsicheren Verhörmethoden, ist schnell zur Stelle. Ihr Vorgesetzter Arno Klinkhammer muss sich bei diesem Fall zurückhalten, denn er kennt die Familie Martell bereits eine lange Zeit. Seine Frau Ines arbeitet mit Mels Schwiegermutter, Gabi, zusammen, sie lektoriert ihre ziemlich erfolgreichen düsteren Romane. Zwischen Mel und Gabi, deren Pseudonym Martina Schneider ist, herrscht eisige Stille. Gabi behauptet, dass Mel keine gute Mutter und Hausfrau sei und Mel verbreitet, dass Gabi eine Hexe ist. Mels Ehemann Martin, Gabis Sohn, hat ein sehr kompliziertes Verhältnis zu seiner Mutter. Dabei hat sie die kleine Familie seit Max auf der Welt ist, den sie besonders verwöhnt hat, finanziell extrem unterstützt. Sie hat ihnen ein Haus gekauft, zwei Autos und die gesamte Einrichtung.
Geld, Erbschaften und Missgunst spielen in Mels Familie, deren Mitglieder angeblich von Karl dem Großen abstammen, eine wichtige Rolle. Mel ist in ihren Meinungen dabei sehr von ihrem arroganten Bruder Joris abhängig. Er ist mit Martins bester Freundin Alina verheiratet.
Während die polizeilichen Ermittlungen auf Hochtouren laufen, kehrt Martin nach Hause zurück und will alles stoppen. Er ist der Meinung, seine Mutter hätte Luca entführt. Durch den Familienzwist hat sie ihren jüngsten Enkel nie gesehen. Aber Gabi ist angeblich mit einer Facebook Bekanntschaft auf Reisen in die Berge.
Die seltsame alte Frau ist Anni Erzig. In einem zweiten Erzählstrang lernt der Leser ihre tragische Geschichte kennen. In kürzester Zeit hat sie ihren Mann und ihr Kind durch eine heimtückische Krankheit verloren. In ihrer Trauer sucht sie nach dem Sohn, den sie als Engel zurückgekehrt in anderen Familie zu entdecken hofft. Dabei gerät die verwirrte Frau an einen brutalen Vater, der glaubt, die Frau wolle sich seinem Kind nähern.
Aber dann ruft mit verzerrter Stimme eine Person bei Martin an und fordert eine Viertelmillion. Klinghammer kann sich nicht zurückhalten und stellt schnell fest, dass Martin unter Druck steht und nun weiß, dass seine Mutter entweder einen Komplizen hat oder mit der Entführung ihres Enkels vielleicht doch nichts zu tun hat.
Betrachtet der Leser die Familien von Mel und von Martin, so stechen vor allem die egoistischen Mütter ins Auge. Mels Mutter Esther zeichnet sich durch Lieblosigkeit aus. Nie hat sie für ihre Kinder einen Finger krumm gemacht, wenn sie verletzt waren, durften sie allein ins Krankenhaus fahren. Auch Gabi folgte nur ihrem eigenen Kummer, als sie aus Köln einfach so mit den Kindern Martin und Martina in die Provinz gezogen ist. Martin war als Schüler sehr unglücklich darüber. Erst die Begegnung mit Alina hat ihn gerettet. Zum anderen sind alle Figuren auf ihre Art unglücklich. Hat Gabi ihre einzige Liebe durch einen hinterhältigen Mord verloren, so ist die Ehe von Mel und Martin kurz vor dem Zusammenbruch. Auch Alina und Joris sind kein harmonisches Paar, zumal Alina nicht die Erbschaft bekommen hat, auf die Joris insgeheim hoffte.
Aber nun ist ein Kleinkind verschwunden und alle Beteiligten hoffen auf eine friedliche Lösung. Allerdings verfügt Gabi, die einzige Person, die eventuell ein Vermögen besitzt, nicht über die geforderte Summe.
Ausufernd, sprachlich klar und ohne große Schnörkel, aber angereichert mit persönlichen Geschichten blättert Petra Hammesfahr verschiedene Familiengeschichten auf. Sie bleibt ganz nah an ihren Protagonisten und taucht tief im alltäglichen Leben ein. Mag der Leser mit dem tragischen Schicksal der Engelsucherin Anni Erzig noch mitempfinden, so hält sich die Sympathie bei den anderen Frauen- wie Männerfiguren in Grenzen. Sie sind egoistisch, übergriffig, hinterhältig, manipulativ, irgendwie extrem langweilig, besitzergreifend und mitleidlos. Alle Untiefen der Seele sammeln sich in den Familienmitgliedern, die Petra Hammesfahr durch die Handlung führt. Auch Gabi, die Autorin von erfolgreichen Krimis, ist eine unsympathische Figur. Eigentlich wäre sie am liebsten ihr Leben lang Taxi gefahren, wäre ihr Geliebter nicht auf ihrer Tour, sie hatten getauscht, ermordet worden. Als sie begann alles aufzuschreiben, hatte sie ihre Passion gefunden. Übersinnliche Kräfte hat sie nur laut Mels Meinung. Sie behauptet auch von ihrer Schwiegermutter gestoßen worden zu sein, obwohl „die Hexe“ 300 km entfernt gewesen war.
Wer dicke Schmöker und Familiengeschichten mit dunklen Geheimnissen mag, sollte diesen Krimi nicht verpassen.
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