Adrienne Brodeur: Treibgut, Aus dem Englischen von Karen Witthuhn, Kindler Verlag, Hamburg 2024, 464 Seiten, €24,00, 978-3-463-00056-5

„Solange sie denken konnte, hatte Abby in dem gemeinsamen Familiendrama immer eine Nebenrolle gespielt, Stichwortgeberin für die Hauptrollen ihres Vaters und ihres Bruders. Ihre Aufgabe war es, die beiden glänzen zu lassen. Wenn es nicht so lief, wie sie es sich vorstellten, bekamen sie Wutanfälle und schrieben die Geschichte um, und Abby – die Friedensstifterin, die sie war – neigte dazu, ihnen zu folgen.“

Nach seinem siebzigsten Geburtstag, der bald ansteht, wird Adam Gardner, Familienoberhaupt und erfolgreicher Biologe und Wissenschaftler, in den Ruhestand gehen. Immer wieder durchlebt der charismatische Patriarch manisch-depressive Phasen, die er eigentlich durch Medikamente in den Griff bekommen hatte. Doch nun ist sein behandelnder Arzt Pensionär und der aufgebrachte Adam Gardner lässt sich von seinem Nachfolger, einem jungen Arzt nichts sagen. Er setzt seine Medikamente ab und beginnt erneut sich seinem Forschungsprojekt, der Entschlüsselung der Walsprache, zu widmen. Gardner lebt allein in einem Haus in Wellfleet in der traumhaften Landschaft von Cape Code.
Früh ist Gardners Frau verstorben und er hat seine beiden Kinder allein großgezogen. Abby arbeitet als Künstlerin mit frühem Erfolg, den sie nicht ausbauen konnte und so unterrichtet sie jetzt Kinder und malt. Sie bewohnt im ehemaligen Atelier ihrer Mutter, die Architektin war. Doch dieses Haus hat ihr kontrollsüchtiger Bruder Ken geerbt, der sie nun großzügig ohne Miete dort wohnen lässt. Abby ist von ihrem verheirateten Jugendfreund David schwanger, will aber niemandem davon erzählen. Ken ist besessen davon, erfolgreich zu sein. Als Bauunternehmer hofft er auf den großen Coup. Mit dem Geld seines reichen Schwiegervaters hat er Bauland gekauft, um demnächst Altersresidenzen für die Reichen zu bauen. Seine Frau Jenny hat Ken durch Abby kennengelernt, da beide zusammen studiert haben. Jenny und Ken haben ziemlich aufmüpfige Zwillinge, die hoffen, dass eine Frau endlich Präsidentin wird. Der Kontakt zwischen Abby und Ken, die beide auf gewisse Weise immer noch mit dem frühen Verlust der Mutter hadern, ist seit einiger Zeit gestört. Vielleicht auch weil Ken immer ehrgeiziger und versessener eine politische Karriere als Kongresskandidat der Republikaner anstrebt und alle um ihn herum 2016 eher auf eine Präsidentin namens Hillary Clinton hoffen.
Und dann ist da noch Steph, eine taffe Polizistin, die mit ihrer Ehefrau Toni sich nun um ein Neugeborenes kümmert und durch einen diagnostizierten genetischen Defekt feststellen musste, dass sie adoptiert wurde. Ihr biologischer Vater ist Adam Gardner. Ihn und seine Familie möchte sie nun kennenlernen.
In Rückblenden und Erinnerungsschüben erzählt Adrienne Brodeur von der Kindheit von Ken und Abby. Adam Gardner hatte so einige Frauenbeziehungen, u.a. auch eine längere mit Gretchen, zu der Abby auch heute noch Kontakt hat. Sie hat ihren damaligen Mann immer darauf hingewiesen, dass Ken zu Abby eine zu nahe Beziehung habe. Nur Andeutungen lassen ahnen, wie diese aussah.
Dass Steph nun zu allen Mitgliedern der Gardner-Familie Kontakt sucht, ohne klarzustellen, warum sie in Cape Code auftaucht, hält Toni für einen Fehler.
Als Schwiegertochter Jenny dann die Geburtstagsfeier ausrichten muss und sich enorm über Adam und seinen Aktionismus ärgert, eskalieren alle sich andeutenden Konflikte zwischen Ken und Adam, Ken und Abby, Ken und Jenny und alle mit Steph.

Es sind die typischen dysfunktionalen Familienkonstellationen, die Adrienne Brodeur in ihrem gut lesbaren Roman durchdekliniert. Der Sohn, der vom Vater anerkannt werden will und in seinen Augen alles falsch macht. Die Tochter, die ihren eigenen Weg gehen möchte und sich nie gegen die Dominanz der Männer auflehnen kann. Die Ehefrau, die ahnt, dass ihr Mann auf Abwegen ist. Das Familienoberhaupt, dass alle dominiert. Die Geheimnisse in der Familie, die ans Tageslicht gelangen. Wobei in diesem Roman die Frauen eindeutig die sympathischeren sind und mit ihrer Hoffnung, dass endlich eine Präsidentin die USA regieren wird, leider falsch liegen.

Adrienne Brodeur im Interview:
„ Ich hatte viele Vorbilder für Abby und Ken – ich bin in einer gemischten Familie aufgewachsen, mit einem leiblichen Geschwister und sechs Stiefgeschwistern -, aber die Beziehung zwischen Abby und Ken entwickelte beim Schreiben schnell ihre ganz eigene Dynamik.“