Ursula Poznanski: Die Verratenen, Loewe Verlag, Bindlach 2012, 464 Seiten, €18,95, 978-3-7855-7546-8
„Unsere Reise wird eine Reise in den Tod.“
Die Welt, wie wir sie kennen, liegt weit zurück, nur Namen wie Berlin oder Vienna erinnern noch an Bekanntes. Ria, die 18-jährige Erzählerin, lebt im sogenannten Sphärenbund, als Elitestudentin, die mehr als 12 Sprachen beherrscht, rhetorisch gebildet ist und die Fähigkeit besitzt, im Gesicht ihres gegenüber zu lesen. Sie ist ein Vitro, d.h. sie wurde im Reagenzglas erzeugt und kennt weder Vater noch Mutter. Eine genaue Zeiteinordung gibt es nicht, aber der Leser hat den Eindruck, die Handlung beginnt ca. Anfang des 22. Jahrhunderts. Die Erde wurde jedoch von keiner Dürre überzogen, sondern von einem Kälteeinbruch, einer neuen Eiszeit, die nun die Menschen in zwei Lager teilt. Die Sphärenbewohner leben privilegiert unter Wärmekuppeln, die „Prims“, d.h. die Primitiven, in Clans in der eiskalten und gefährlichen Außenwelt. Es gibt kaum fruchtbares Land und Bücher aus Papier sind etwas ganz Besonderes.
Ria und ihr Freund Aureljo, er ist auf der Skala der Begabten der Borwin-Akademie an erster Stelle, absolvieren ein hartes Studium, um später eine der führenden Rollen im Staate einzunehmen. Sie werden in dem Glauben erzogen, dass die Sphären alles tun, um den Prims zu helfen. Die Außenbewohner jedoch bestehlen die Transporte und bedrohen sogar Sphärenbewohner. Drei junge idealistische Studenten, die in der Außenwelt auf Exkursion waren, sind zu Tode gekommen. Seltsam ist nur, dass die Toten nicht offen wie alle anderen aufgebahrt werden.
Durch einen Zufall belauscht die durchaus selbstbewusste Ria, ihr Name ist eine Zusammensetzung aus Eleonore von Aquitanien und Ariadne, die Führer der Akademie. Es geht um eine Verschwörung in die sechs Studenten verwickelt sind. Erwähnt wird Jordans Chronik, womit Ria allerdings nichts in Verbindung bringen kann. Als die junge Frau hört, dass sie und ihr Freund Aureljo auf der Liste der Verschwörer stehen, gerät sie in Panik, denn die Machthaber beschließen die möglichst baldige Ermordung der Elitestudenten.
Ria spürt die anderen Jugendlichen, Tomma, Tycho, Dantorian und Fleming auf, beobachtet sie und kann einfach nicht verstehen, warum alle sechs in irgendeiner Weise zusammengehören oder gar eine Verschwörung angezettelt haben sollen. Die Sphärenbewohner tragen einen sogenannten Salvator am Arm, er meldet sich, wenn ihr Essverhalten nicht stimmt oder körperliche Unregelmäßigkeiten auftreten. Schnell wird Ria klar, dass der Salvator auch in der Lage ist, alle Gespräche abzuhören, die der Träger führt.
Als dann alle sechs Studenten die angebliche Ehre zu Teil wird, den Präsidenten des Sphärenbundes kennenzulernen und per Magnetbahn die vertraute Kuppel verlassen müssen, ist Ria klar, dass sie kurz vor der Exekution stehen.
Die sechs sogenannten Verschwörer jedoch können als die Magnetbahn hält, sich ihren Häschern entziehen. Doch nun sind sie mit ihrer Notfallausrüstung allein in der lebensbedrohlichen Wildnis. Gewohnt in abgeschlossenen Räumen zu leben, erkunden die sechs die schneereiche, unberührt anmutende Landschaft.
Nicht lang und sie werden von Wölfen angegriffen. Männer des Clans der Schwarzdornen retten die sechs, nehmen sie aber auch als Gefangene mit zu ihren Anführern. „Liebling“ nennen die Prims die Sphärenbewohner. Ria versucht dem Clan durch ihre Überredungskünste klarzumachen, dass jeder der Jugendlichen für sie wertvoll sein könnte.
Fleming kennt sich in der Heilkunde aus, Tomma ist Expertin auf dem Gebiet der Nahrungsmittelkunde, Tycho ein Technikgenie, Dantorian ein exzellenter Zeichner und Musiker und Aureljo universal gebildet, so wie Ria. Doch die „Wilden“, die auf dem Niveau der Jäger und Sammler stagnieren, spüren nur Hass gegen ihre Gefangenen. Rias Weltbild beginnt ihr zu entgleiten als sie hört, dass die Sphärenbewohner „die Wilden“ brutal versklavt haben und in Massen getötet, wenn sie ihr Land ausweiten wollten und ohne jegliches Mitgefühl Familien auseinandergerissen haben. Die Schwarzdornen sind im Gegensatz zu den Schlitzern und anderen Clans, noch ein relativ friedlicher Stamm, das mag an ihrem Anführer Quirin liegen. Er schützt die jungen Leute vor gewaltsamen Übergriffen und zeigt Ria in der Stadt unter der Stadt eine fast unversehrte Bibliothek.
Ria und die anderen müssen nun mit den Clanmitgliedern Rohstoffe in den Ruinen der untergegangenen Welt suchen.
Ria bemerkt an ihrem Salvator, der eigentlich nicht mehr funktionieren sollte, damit sie nicht geortet wird, Nachrichten aus der Kuppel. Immer noch rätselt die junge Frau darüber, warum die Führung des Sphärenbundes ihnen eine Verschwörung unterstellt. Aureljo will unbedingt fliehen und in einer nahe gelegenen Sphäre Aufklärung fordern. Selbstmord sei das, vermuten die anderen.
Auf ihrem Salvator empfängt Ria eine beängstigende Nachricht. Unter den sechs Studenten soll sich ein Verräter befinden. Immer mehr Mordanschläge werden gezielt auf die sechs verübt. Auch wenn die Clanmitglieder weiterhin die Fremden mit ihrem Hass verfolgen, so trachten sie nicht nach ihrem Leben.
Quirin weiß, er kann die Studenten nicht mehr lang schützen. Als ein Student gezielt ermordet wird, offenbaren sich unglaubliche Vorfälle, die alle irgendwie mit Jordans Chronik zusammenhängen. Ria und ihre Freunde müssen in der eiskalten Wildnis weiterziehen, um endlich herausfinden, warum sie zu Verratenen geworden sind.
Ursula Poznanski hat einen äußerst spannenden dystopischen Roman geschrieben, der auf drei Bände angelegt ist. Geschrieben im Präsens fiebert der Leser an der Seite der Ich-Erzählerin Ria in jeder brenzligen Situation mit ihr mit und bleibt so lange wie die Hauptfiguren ahnungs- und ratlos.
Nicht untypisch für Dystopien stellt die Autorin zwei Welten einander gegenüber. Die eine ist der anderen angeblich technisch und zivilisatorisch überlegen, die Sphärenbewohner stehen auf der symbolisch künstlichen Sonnenseite und die Prims vegetieren fast wie Tiere in der unwegsamen, irdischen Wildnis. Ideologisch indoktriniert lebt die junge Generation der Sphären in einem nur auf Leistung ausgerichteten Elfenbeinturm. In der echten Natur erleben die jungen Leute, was es bedeutet, an wahre Grenzen zu stoßen, Verlust kennenzulernen, zu einer Familie zu gehören und jeden Tag um sein Leben zu kämpfen. Und sie stellen alles, was sie für ihre Lebensrealität gehalten haben, in Frage. Sie werden den Eindruck nicht los, dass sie genauso wie die Prims Spielbälle einer gefährlichen Machtriege sind. Erfreulich ist, dass die österreichische Autorin den Leser nicht mit einer Liebesgeschichte behelligt, sondern Ria und Aureljo von Beginn an ein ehrgeiziges und idealistisches Paar sind.
Ursula Poznanski vermag es, eine temporeiche, fantastische Handlung geschickt mit atmospärisch treffenden Beschreibungen der unterschiedlichen Milieus zu verbinden.
Ihre Figuren agieren lebendig, integer und überzeugend. Und wer am Ende des ersten Bandes „Die Verratenen“ angelangt ist, will unbedingt wissen, wie und wann die Geschichte endlich weitergeht.
Schreibe einen Kommentar