Ragnar Jónasson: Weich fällt der Schnee, Kriminelle Weihnachtsgeschichten aus Island, Übersetzt von Andreas Jäger, Anika Wolff, btb Verlag, München 2025, 192 Seiten, €20,00, 978-3-442-76321-4
„In ihrem Elternhaus war es wie in den meisten isländischen Familien Tradition gewesen, am Heiligabend ein Buch zu lesen und dazu idealerweise isländisches Konfekt zu naschen. Sie hatte sich vorsorglich eine Schachtel Pralinen besorgt, die jetzt offen neben dem Buch stand.
Der Fremde mit der Schrotflinte hatte die Stille dieser Heiligen Nacht zerstört.“
Das Weihnachtsfest soll in allen Ländern, die es begehen, für eine friedliche, besinnliche und vor allem gewaltfreie Stimmung sorgen. In Island ist das sicher auch so. Die Familien kommen zusammen, es wird gut gegessen, getrunken und laut Ragnar Jónassons Geschichten auch viel gelesen. So weit, so gut. Doch schleicht sich gerade in der Stadt Siglufjörður auch ein Unbehagen ein, denn wo der Schnee weich fällt, könnten es auch Menschen geben, die gerade am Heiligen Abend etwas bereuen, aber auch Rache üben, andere in Angst und Schrecken versetzen, eine Beichte ablegen oder gar morden.
Gleich in der ersten Geschichte öffnet Jódís der Brief seiner sechsjährigen Tochter an den Weihnachtsmann die Augen. Jódís wird im Alter von sechzehn Jahren wortlos die Familie verlassen, um Jahre später wieder vor der Tür zu stehen. Doch was waren die Beweggründe der Jugendlichen und was hatte der Vater unternommen, damit Jódís zurückkehrt?
Diese erste Geschichte von insgesamt sechzehn in Ragnar Jónassons Sammlung bildet einen starken Auftakt und verdeutlicht die Erzählweise des Autors, der nie gewaltsame Szenen beschreibt. Vieles wird nur angedeutet und die Lesenden müssen die Lücken füllen oder sich manchmal die Geschichte auch allein zu Ende denken.
Auffallend sind die Geschichten, in denen gerade Frauen sich selbst ermächtigen, um für Gerechtigkeit oder ihren eigenen Frieden sorgen. So erzählt die achtzigjährige Halla ihrem Polizisten des Vertrauens, Ari Arason, in der Titelgeschichte von ihrem Ehemann Einar, der obwohl er vor dreißig Jahren verstorben ist, ihr immer noch jedes Jahr einen Weihnachtsbrief sendet. In der Geschichte „Das Weihnachtsrätsel“ bittet eine ältere Frau einen freundlichen Buchverkäufer mit ihr ein Rätsel rund um berühmte Krimigeschichten, die sich alle ums Weihnachtsfest, z.B. von Agatha Christie, Georgette Heyer oder Ellery Queen drehen, zu lösen. Eine Tasse Kaffee wird gereicht und schon geht es los und endet, keine Überraschung, tragisch. In der Geschichte „Die Truhe“ verbergen sich viele Anspielungen auf die Filme von Alfred Hitchcock.
Jede Geschichte öffnet Türen in Häuser, Buchläden oder Landschaften und immer spielen sich menschliche Tragödien ab.
Da ist es gut, wenn man dieses Buch lesen kann, Weihnachtskekse knabbert oder ein Glas Glühwein
trinkt und weiß, alle Geschichten handeln weit weg in Island. Doch dann klingelt es an der Tür …..