Andreas Pflüger: Kälter, Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 495 Seiten, €25,00, 978-3-518-43258-7

„Manchmal schrieb das Leben eine Geschichte, die sich kein Schriftsteller ausdenken würde, und wenn doch, wäre sie ihm unglaubwürdig erschienen.“

Diesen Gedanken kann der mal für die Stasi dann wieder für den KGB arbeitende, extrem bullige Nika Trigorin, auch Belski genannt, nicht wegwischen. Andreas Pflügers imposanter Protagonist spielt u.a. auf die Geschehnisse in der deutschen – deutschen modernen Gegenwart an, in der nicht nur eine RAF die Geheimdienste aufmischte, sondern auch der Fall der Mauer BND, MI6, KGB, CIA, Mossad und letztendlich die Stasi in einen Strudel unübersichtlicher Ereignisse torpedierte.
Vieles in diesem Roman, so in den Anmerkungen und Interviews des bekannten Autors, ist genauestens geschichtlich belegt, vieles allerdings auch frei erfunden. Dass die DDR, gegründet 1949, nicht ihren fünfzigsten, wie es im Roman steht, sondern vierzigsten Geburtstag am 7. Oktober feierte, ist leider ein unverzeihlicher Fauxpas.
Alles beginnt Ende Oktober 1989 auf der beschaulichen Insel Amrum, auf der nun bereits seit acht Jahren die sympathische, wie äußerlich eher unauffällige Luzy Morgenroth als Polizistin arbeitet. Die fünfzigjährige, etwas zu füllige Blondine und Raucherin schiebt tagtäglich ihren eher langweiligen Dienst mit ihrem Lieblingskollegen Jörgen Quedens, der ihr alles von sich erzählen würde. Sie hält sich da doch bedeckter. Als dann fünf Killer vom KGB auf der Insel landen und nur Luzy die gesamte Aktion durchschaut und handelt, sind deren Leben, aber leider auch das des neugierigen Jörgen ausgelöscht. Für Luzy ein großer Schmerz und zugleich das Ende ihres Rückzugs aus der Welt der Geheimdienste und Terroristen. Sie, die offenbar außen heil, aber innen kaputt ist, meldet sich wieder bei ihrem Vertrauten Richard Wolf, dem derzeitigen Präsidenten des Bundeskriminalamtes. Denn Luzy hat bei den ungebetenen Gästen der Insel ein Deckblatt eines Aktenordners gefunden, dessen Aufschrift ihr verrät, dass der am meisten gesuchte Terrorist, Hagen List, der sich auch Babel nennt, doch noch am Leben sein muss. Im Jahr 1981 wurde er in Maryland für tot erklärt und nun ist er als IMB des Ministeriums der Staatssicherheit wieder auferstanden. In einer langen Passage des Romans schaut Luzy nun auf ihre Arbeit bei den Sicherheitsdiensten, bei denen sie es sogar zur Kommandoführerin des Wirtschaftsministers gebracht hat, zurück. Dass dieser Minister seine Nazi-Vergangenheit bei der Waffen – SS verbergen konnte und auch keine Falschmeldung ihn diskreditierte, ärgert Luzy. Schlimmer jedoch ist, dass sie bei seinem Besuch in Israel fünf Männer verliert, deren Mörder eindeutig KGB-Leute sind und Babel, dem Luzy in die Augen sehen muss:

„Als der Weißclown sich zu ihre beugte, sagte er: ‚Vielleicht begegnen wir uns wieder und finden dann heraus, wer von uns beiden kälter ist. Was meinen Sie: Sind sie kälter als ich?‘ Da wachte sie auf und lächelte.“

Den Tod des Wirtschaftsministers und Massenmörders rührt Luzy wenig, doch die Tatsache, dass sie überlebt und die Männer unter ihrem Kommando getötet wurden, kann sie nicht verschmerzen. Und nun ist Babel wieder da und er hat den gutmütigen Jörgen auf dem Gewissen. Luzy trainiert wie verrückt, aktiviert alle Kräfte und beginnt einen beispiellosen Rachefeldzug gegen Babel, dessen Auffinden im Trubel des Mauerfalls und all der Umbrüche und Wendungen mehr als kompliziert ist. An ihre Seite tritt der ebenfalls schwer einzuschätzende Nika Trigorin, mit dem sie bis nach Wien reisen wird, um Babel zu stellen, der eine weitere Terrortat plant. Und mit Wien und Prater assoziieren die meisten natürlich einen berühmten Film mit dem überragenden Orson Welles.
Mit unzähligen Anspielungen unterfüttert Andreas Pflüger seine packende Handlung, in der die Protagonisten eher zynisch als hoffnungsfroh auf die Veränderungen in der deutsch-deutschen Gesellschaft blicken. Reminiszenzen an klassische Filme, aber auch Schlagertexte der Zeit so wie russische Literatur und Bibeltexte fließen ein und historisch bedeutsame lebende wie verstorbene Persönlichkeiten finden zeitkritisch ihren Platz in diesem absolut spannenden Thriller, in dem eine fünfzigjährige Frau über sich hinauswächst, richtige Entscheidungen trifft, gnadenlos kämpft und das sei verraten, gewinnt.