Arttu Tuominen: Was wir nicht sehen wollen, Aus dem Finnischen von Anke Michler-Janhunen, Lübbe Verlag, Köln 2025, 384 Seiten, €18,00, 978-3-7577-0146-8
„Für Aleksi hatte sie alles aufgegeben. Ihre Moral, ihre Ethik, ihre Seele. Sie war das geworden, was sie am meisten verachtete. Eine schlechte Polizistin.“
Die Kommissariatsleiterin Susanna Manner steckt in tiefen Schwierigkeiten, denn im wunderschönen Finnland, in dem angeblich die in Europa glücklichsten Menschen wohnen, tummeln sich neuerdings wie in Schweden jugendliche Banden, die die Stadtbewohner von Pori verunsichern. Alle brutalen Übergriffe auf hilflose Obdachlose, die zur Anzeige gebracht wurden, hatte Susanna Manner aus Angst, dass ihr drogensüchtiger Sohn Aleksi darin verwickelt sein könnte, nicht für Ermittlungen freigegeben. Aleksi hat sich der Bande von Ilkka Rajala angeschlossen und diese arbeitet auch noch für den stadtbekannten serbischen Drogenhändler Dragan Valenski. Dabei muss Aleksi für einen Überfall auf einen Kiosk demnächst ins Gefängnis. Als Susanna Manner mit siebzehn Jahren schwanger wurde, hatte sie keine Hilfe. Doch sie hat Jura studiert und sich als alleinerziehende Mutter durchgeschlagen. Ihr Sohn jedoch hat zwar das Abitur geschafft, doch seine Drogensucht zerstört nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Mutter. Es wird sogar so weit kommen, dass Dragan Valenski sie mit Hilfe von Aleksis Straftaten erpressen kann. Und Manner schweigt gegenüber ihren Kollegen und nutzt ihr Stellung aus, um nach einer Lösung für Aleksis Problemen zu suchen.
Dies ist kein Krimi für schwache Nerven, denn die Gruppe der Schwächsten in der Gesellschaft, die Obdachlosen, werden nicht nur verprügelt, sondern durch den geheimnisvollen Erlöser auch noch bestialisch getötet. Die Ermittler können nicht fassen, dass, und das sehen sie auf einer schlechten Aufzeichnungskamera, die Obdachlosen nach einem Gespräch mit einer vermummten Gestalt sich selbst mit Benzin übergießen und anzünden.
Arttu Tuominen umkreist nicht nur die privaten Verhältnisse von Susanne Manner, sondern auch die von Kriminaloberkommissar Jari Paloviita. Der Dreiundvierzigjährige hat von außen betrachtet alles, ein schönes Haus, wohlgeratene Kinder und eine Frau. Doch kein noch so teures Designerstück konnte seine Ehe retten. Paloviita arbeitet nicht immer ganz regelkonform und er hadert mit sich, weil er seinen besten Freund Antti aus den Augen verloren hat, der jetzt vielleicht auch auf der Straße lebt und in Gefahr ist. Wie kommt es, dass Menschen mittellos auf der Straße landen? Warum nehmen sie die Hilfe von Sozialarbeitern, z.B. im Blaubandhaus nicht an? Und warum ist die Polizei so machtlos, wenn Jugendliche gnadenlos auf Menschen losgehen, die sich nicht wehren können? Dabei legen die Banden es neuerdings auch darauf an, sich mit Polizisten zu prügeln, da sie straffrei davonkommen. Umfangreich ist die Arbeit der Ermittler, die Dokumente auswerten, Handyortungen und Videoaufnahmen überprüfen und mit allen Beteiligten sprechen müssen. Dass jemand die Stadt „reinigt“ und auch alle Kameras in der Stadt kennt, macht Jari Paloviita besonders ärgerlich. In ihrer Verzweiflung versucht die Polizei, einen Lockvogel aus ihren Reihen auf die Banden und den Erlöser anzusetzen. Und Paloviita und Manner informieren sich bei einer Spezialistin nach Hypnose und Suggestion, um zu verstehen, wie der Erlöser seine Opfer manipuliert und gefügig macht.
Der finnische Autor Arttu Tuominen erzählt von gesellschaftlichem wie individuellem Versagen und stellt das Vertrauen in die Polizei wieder her, die letztendlich den Täter stellen wird. Ob Banden und Drogenkartelle verschwinden, wenn die führenden Personen im Gefängnis sitzen oder getötet wurden, wäre eine Illusion. Fraglich auch, dass Staatsdiener Selbstjustiz üben. Und so verzichtet der Autor auf ein klar auserzähltes Ende, was Raum für Spekulationen lässt und das Interesse an einem Fortsetzungsband der erfolgreichen „River-Delta-Reihe“ .