Håkan Nesser: Eines jungen Mannes Reise in die Nacht, Aus dem Schwedischen von Paul Berf, btb Verlag, München 2025, 352 Seiten, €25,00, 978-3-442-76309-2

„Barbarotti konnte ihm insofern zustimmen, dass die Jagd nach Mustern und Zusammenhängen häufig vergeblich blieb, aber gab es einen anderen vernünftigen Weg, als Mordermittler zu arbeiten? Man ahnte ein Muster, puzzelte weiter, um es schlüssig zu machen, ähnlich, wie eine Spinne ihr Netz spinnt, und wenn es reißt, fängt man wieder von vorne an. Der Bulle genauso wie die Spinne.“

Inspektor Sorgsen, eigentlich Lars Borgsen, hat sich in Kymlinge ( Der Ort erscheint auf keiner Karte Schwedens.) diesen Spitznamen eingehandelt, weil er als Person so traurig wirkt. Nach seiner Scheidung hat der Ermittler eher die Arbeit im Innendienst aufgenommen und trägt sich mit dem Gedanken, ein Buch über sein Leben zu schreiben. Von der Pandemie gezeichnet leidet Borgsen unter Ermüdungserscheinungen und depressiven Schüben. Doch nun ereignen sich in zeitlichen Abständen ausgerechnet in Borgsens Wohnviertel zwei Morde. Zum einen wird der nicht gerade beliebte Sportlehrer Allan Fremling beim Öffnen seiner Wohnungstür, um eine Pizza entgegenzunehmen, ermordet und Birger Svensson, Personal Trainer, unweit von Borgsens Haus. Beide wurden von dem intelligenten, wie einsamen Außenseiter, Erik Alexander Burman, erschossen. Der Fünfzehnjährige hat die Tatwaffe und Munition in einem heruntergekommenen Haus gefunden. Von Eriks Existenz und seinem Leben erfahren die Lesenden innerhalb der Handlung sehr schnell, sein Name jedoch bleibt lang ein Geheimnis.
Gemeinsam mit Gunnar Barbarotti, seiner Frau Eva Backman, einer neuen Kollegin Paola Borgada beginnt Lars Borgsen nun mit Befragungen und routinierter Polizeiarbeit. Doch wie auch immer alle die Fakten hin- und herdrehen, es findet sich kein Motiv für die Morde und auch keine Schnittstellen zwischen den Leben der beiden Opfer.
Immer wieder fließen in Håkan Nessers linear verlaufende Handlung Gedanken zur gesellschaftlich niederschmetternden Stimmung ein, den aktuellen politischen Themen, wie dem Krieg in der Ukraine und der Zunahme der Rechtsradikalen in den Regierungen. Auch der ernsthafte wie besorgte Barbarotti, der gern zu seinem Gott betet, träumt davon, allem zu entfliehen und friedlich mit Eva in einem eigenen Haus auf Gotland zu wohnen. Im Urlaub werden sie sich auf die Suche machen.
Die Ermittler verwerfen jedenfalls schnell die Idee, dass vielleicht auch in diesem Wohnviertel die Gangkriminalität Einzug gehalten hat oder der Täter oder die Täterin sich beim ersten Mord in der Tür geirrt haben. Die beiden Opfer sind durchaus unsympathische Zeitgenossen, die sich über die Schwachen lustig gemacht und sogar erpresst haben. Doch rechtfertigen diese widerlichen Handlungen die Hinrichtungen von Fremling und Svensson? Und warum müssen nun bereits Kinder das Recht in die Hand nehmen, um als moralischer Kompass Rache zu üben? Geschickt schafft es Erik sogar, dem fiesesten Brüderpaar an seiner Schule die Morde unterzuschieben. Sozusagen diejenigen, die nie für ihre Gewalt gegen jüngere Schüler und das Verbreiten von Angst verantwortlich gemacht werden, zu bestrafen. Ein Jugendlicher, der mit Begeisterung Kriminalromane und ein Handbuch für Hobbymörder liest, übt Vergeltung.
Håkan Nesser hat seinen neuesten Roman in einer leicht schicksalsergebenen wie abgeklärten Sprache geschrieben, als könne man in dieser instabilen Welt so gar nichts mehr ändern und müsse sich mit allem abfinden. Und verfolgt man die Nachrichten jeden Tag, dann verstärkt sich dieser Eindruck. Gehen gute Kriminalromane der gesellschaftlichen Realität auf den Grund, so hat Håkan Nesser, als der wohl bekannteste schwedische Autor, den Lesenden wiedermal einen Spiegel vorgehalten.