Davide Longo: Ländliches Requiem, Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner und Felix Mayer, Rowohlt Verlag, Hamburg 2025, 527 Seiten, €26,00, 978-3-498-00733-1
„Ist so etwas wirklich vorstellbar? Du lernst jemanden kennen, bekommst ein Kind, ziehst es groß, kümmerst dich, schenkst ihm deine Liebe, und dann kommt einer daher und bringt es auf so eine Weise um? Weil er ihm eigentlich Mädchenkleider anziehen und ihn fotografieren wollte?“
Wenn die Turiner Ermittler Ispettore Arcadipane, Vize Pedrelli und Commissario Corso Bramard einen Fall übernehmen, dann heißt es für die Lesenden mit viel Geduld ihrer ausufernden Polizeiarbeit, die nicht immer legal ist, zu folgen. Davide Longo benötigt ein umfangreiches Personal-Tableau um die Spannung über mehr als 500 Seiten hin nicht nur zu halten, sondern mehr und mehr zu steigern, bis zu seinem überraschenden Finale. Angesiedelt ist die Geschichte in den 1980er Jahren, denn es wird viel geraucht, auf elektronischen Schreibmaschinen geschrieben und Arcadipanes Mutter regt sich in einer witzigen Szene über die völlig unrealistische, amerikanische Serie „Dallas“ auf.
Dieses Mal ereignet sich ein dramatischer Überfall im zwanzig Kilometer von Turin entfernten Casalforte. Eric Delarue, Geschäftsführer einer Gießhütte, wird beim Öffnen der Tür zu seiner Dachgeschosswohnung ins Gesicht geschossen. Ein Nachbar kann den fliehenden Täter mit Sturmhaube kurz sehen. Markant sind seine grünen Augen und eine drohende Geste mit einer markanten Pistole. Delarue wird schnellstens in eine Privatklinik gebracht. Das zweiundfünzigjährige Opfer ähnelt auffällig Julio Iglesias. Nach und nach stellt sich heraus, dass Delarue zwar einen guten Leumund hat, sich gern um Probleme seiner Angestellten kümmerte, es aber auch genoss, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Allen war auch bekannt, dass der Geschäftsführer ein Kunstkenner war und immer auf der Suche nach besonderen Stücken. In seiner Dienstwohnung, in der er mit seiner Ehefrau Dora Dasei lebte, einer eher unattraktiven und harschen Person, entdeckten die Ermittler zwei Zeichnungen von Balthus. Noch ahnen sie nicht, welche Rolle die Kunst dieses 2001 verstorbenen französischen Malers spielen wird. Durch Corso Bramards Kontakte und geschickte Befragungen setzt sich sehr langsam ein genaueres Bild von Eric Delarue und seinen dubiosen Leidenschaften zusammen. Für eine Gruppe distinguierter Herren der Gesellschaft, die sich als „Freunde der Ästhetik der heiligen Körper des Kindes“ bezeichnen, hat Delarue bekannte Gemälde von Balthus originalgetreu mit Möbeln, Stoffen und allem Zubehör nachgestellt. Für die Fotos wurden elfjährige Jungen aus dem Ort entführt, sediert und in Mädchenkleider gesteckt. Nach den Sessions spürten die Jungen Übelkeit, konnten sich aber an nichts erinnern. Delarue nutzte auch die Schwächen seiner Mitarbeiter aus, um sie gefügig zu machen. So wusste er von der Drogenabhängigkeit von Massimiliano Butticé, der für ihn arbeitete. Als dann jedoch ein Bekennerschreiben von Terroristen der Roten Zellen auftaucht, glauben die Vorgesetzten von Arcadipane, dass der Fall erledigt ist. Doch die Ermittler sind skeptisch, zumal ein alter Vermisstenfall des damals elfjährigen Mathias Bresciani, der nach Sportspielen nicht nach Hause zurückkehrte, mit Delarues Überfall zusammenhängen könnte. Als dann die Leiche von Massimiliano Butticé in einer einst von Delarue angemieteten Scheune auftaucht, die von einem gefährlichen Gewächs, dem Riesen-Bärenklau, umgeben ist, nimmt die Geschichte erneut Fahrt auf.
Für diesen Fall setzt Corso Bramard, der wie alle wissen, zu viel Alkohol trinkt und auch illegale Wege einschlägt, wenn es sein muss, seine Karriere aufs Spiel, allerdings nicht für den im Koma liegenden Delarue, sondern für Mathias Bresciani.
Davide Longo hat einen sprachlich, aber auch dramaturgisch sehr anspruchsvollen Roman geschrieben. Wie an feinen Fäden zieht er die Lesenden immer tiefer hinein in eine dunkle Geschichte über Selbstjustiz und Rache, verkompliziert durch viele Nebenschauplätze, aber auch Abgründe innerhalb der Polizei.