J P Delaney: Die Erbin, Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt, Penguin Verlag, München 2024, 320 Seiten, €16,00, 978-3-328-60367-2
„Ich versuchte, mich noch weiter zurückzuerinnern. Hatte es jemals irgendeinen Beweis für die Vergangenheit von Roze und Ruensa gegeben? Mir wollte absolut nichts einfallen – nur Worte.
Worte, aus denen Geschichten entstanden waren, die sich unentwegt veränderten, wie ein Netz seine Form veränderte, während man sich darin verstrickte.“
Der englische Maler und Lebenskünstler Jimmy Hensen ist nun in Mallorca, seiner Wahlheimat, verstorben. Seine Kinder Finn und Jess nennen ihn den „Alten Dreckskerl“, mit dem sie kaum etwas zu tun haben wollten. Beide verbrachten ihre Kindheit auf der Insel und sind dann nach der Scheidung der Eltern nach London mit der Mutter zurückgegangen. Geprägt wurde die Zeit auf Mallorca für Finn und Jess durch das ausschweifende Hippie-Leben der Eltern, ein Leben ohne Strukturen oder gar Liebe. Jimmy Hensen war ständig betrunken und dann sehr aggressiv. Wenn ihm eines Spaß machte, dann seinen Sohn zu demütigen.
Als Ich-Erzähler erinnert sich der konfliktscheue Finn bei seiner Reise nach Canzacs und auch während seines Aufenthaltes auf der Finca Síquia, dem Wohnort des Vaters, der testamentarisch den Kindern zugesprochen wurde. Ärgerlich ist nur, dass Jimmy Hensen ein drittes Mal geheiratet hat und zwei Frauen, die neue Stiefmutter Ruensa und Tochter Roze nun in der Finca wohnen und auch die Ländereien mit Orangen, Oliven, Mandeln, Feigen, Zitronen und Avocados bewirtschaften. Beide Frauen stammen als Flüchtlinge aus Albanien und haben mit sehr viel Arbeit und dem geretteten Geld von Ruensa die Finca renoviert. Finn verliebt sich auf den ersten Blick in die anmutige Roze und hofft sehr auf die Erwiderung seiner Gefühle. Allerdings soll er vor Ort den Verkauf der Finca in die Wege leiten, so verabredet mit seiner sehr energischen Schwester Jess, die ihm per SMS Druck macht. Auch der Anwalt in Canzacs rät zu einer schnellen Abwicklung. Doch Finn gewöhnt sich an die harmonischen Tage in der bergigen Landschaft Mallorcas und an die Fürsorge der beiden Frauen, so wie die gemeinsame Arbeit mit Roze. Er kann sich sogar im Gegensatz zu Jess für die Pläne der Frauen begeistern, die Zimmer vermieten wollen und auf Agroturismo setzen.
Als dann jedoch die Policia Nacional in Palma Finn darauf aufmerksam macht, dass sie Zweifel am Unfalltod des Vaters hegt, wird auch er etwas misstrauisch. Angeblich war die Ehe zwischen Jimmy und Ruensa durch Liebe und Glücksmomente geprägt. Doch nach und nach wird klar, auch in dieser Ehe hat der Vater trotz aller guten Vorsätze hemmungslos getrunken und gewütet. Zwischen den Erzählungen der Frauen und dem, was Finn durch andere Infos, z.B. vom Nachbarn erfährt, klaffen enorme Lücken. Klar ist auch, dass Ruensa den Ehestand benötigte, um in Spanien bleiben zu dürfen. Rozes Bleiberecht hängt immer noch in der Schwebe. Gestorben ist der Vater als er Oleanderzweige verbrannte, was, wie alle auf der Insel wissen, tödlich ist. Als Finn dann von Rozes tragischem Vorleben erfährt, denn die Frauen haben wie vermutet nicht alles erzählt, sieht er seine Chance.
Wie für Finn aus dem Paradies die Hölle wird, liest sich äußerst spannend.
Psychologisch geschickt setzt J P Delaney auf den vermeintlich feinfühligen wie moralisch integren Finn, der am Beginn so unschuldig wirkt, als Erzählerstimme und alle üblichen Vorurteile, die Menschen nun mal haben. Schnell glaubt man als Lesender, dass die beiden arbeitsamen Frauen vielleicht doch den harmlosen Finn ausnutzen und etwas im Schilde führen, denn warum sollten sie ihr Geld und all ihre Kraft in die Finca stecken, wenn sie wissen, dass sie nicht die Erben sein werden. Dass in Finn noch eine ganz andere Person schlummert, die allerdings erst am Ende zum Vorschein kommt, ist plausibel, bedenkt man, wie sein Verhältnis zu seinem Vater war und nun zu seiner fordernden Schwester ist. Aber auch die beiden Frauen bleiben in ihrem Handeln undurchsichtig und geben viel Raum zum Spekulieren.
Spannung pur!