Matthias Edvardsson: Dunkelkaltes Schweigen, Aus dem Schwedischen von Annika Krummacher, Limes Verlag, München 2024, 416 Seiten, €18,00, 978-3-8090-2781-2
„Das ganze Leben war zu einem einzigen großen ‚Wenn‘ geworden.“
Jari Kekkonen, Familienvater und Teilhaber an einem erfolgreichen Unternehmen, liebt seine Familie. Er ist nach dem Studium nach Trelleborg zurückgekehrt, einem Ort, der für ihn übersichtlich ist und für Geborgenheit steht. Sogar sein einstiger Schulfreund Patrick ist sein Nachbar und sein Sohn Sixten ist seit Kindergartentagen mit Jaris ältester Tochter Isabella, die nun achtzehn Jahre alt ist, liiert. Zu gern spielt Jaris mit seiner Frau Maria, Isabella und der sechzehnjährigen Tochter Amanda Padeltennis. Voller Ehrgeiz will er immer gewinnen und auch Isabella ist in all ihrem Handeln zielstrebig und zukunftsorientiert. Sie schaut sich sogar schon Häuser an, in denen sie vielleicht mit Sixten und einer Schar Kinder wohnen könnte. Amanda ist leistungsmäßig nicht so hervorragend, allerdings ist sie die Schönheit in der Familie.
Parallel dazu lernen die Lesenden die Familie Palevski kennen. Die Eltern Sasho, seine Familie stammt aus Mazedonien, und Linda arbeiten in einem Supermarkt und beider Sohn Nico hat sehr gute Leistungen in der Schule und spielt Klavier. Nico ist wiederum mit Sixtens Bruder Teo befreundet. Alle wissen auch, dass Sasho als Jugendlicher gewalttätig war und sogar im Gefängnis gesessen hat.
Jari, der sich immer um seine Kinder sorgt, ist nicht sonderlich begeistert als Nico und Amanda ein Paar werden. Was beide trennt, ist die soziale Herkunft, denn Amanda lebt in einer wohlhabenden Gegend und Nico nur in einem kleinen Haus. Und niemand weiß, dass es ein Geheimnis gibt, dass Jari und Sasho seit ihrer Jugendzeit teilen. Amanda hatte den großen Fehler begangen, einem Ex-Freund Nacktfotos von sich zu schicken. Sie ist nun einerseits sehr vorsichtig, wenn es darum geht, sich auf einen Jungen einzulassen. Andererseits ist sie jedoch auch gern spontan und lebensfroh.
Matthias Edvardsson erzählt seine tragische Geschichte, Amanda wird gewaltsam ums Leben kommen, nicht chronologisch. Zwar wissen die Lesenden, was in der Gegenwart passiert, erfahren aber auch, was zwischen den einzelnen literarischen Figuren im Abstand von einem Jahr geschehen ist.
Kriminalkommissar Bo Brodin wird Nico verhaften, denn Amanda war an dem gewissen Abend bei ihm. Angeblich wollte sie sich, als sie Nico verließ, von den Eltern in der Nacht abholen lassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Am Tatort wurde das Gewehr von Jari gefunden, der oft auf die Jagd geht. Nico hat sich dazu entschieden, in den Verhören zu schweigen. Wer hat nun das Gewehr aus dem angeblich immer abgeschlossenen Schrank genommen? War es Mord oder Totschlag? Hat Amanda Selbstmord begangen? Die Obduktion ergibt, dass Amanda sehr unter Stress gestanden haben muss, denn sie hat sich mehrmals selbst verletzt und geritzt. Warum konnte sie ihrer Familie nicht ihre Sorgen anvertrauen? Waren die Erwartungen an sie zu hoch? Hatte niemand in der Familie Zeit für sie? Warum glaubt auf der anderen Seite Nico, dass Gewalttaten in der Familie vererbbar seien? Immerhin hat sein Großvater seine Ehefrau getötet.
In den Rückblenden wird nun deutlich, wie sehr die Familienmitglieder in ihren Gewohnheiten miteinander verbunden sind. Die Eltern arbeiten viel, Maria ist Juristin und die Kinder sollen funktionieren. Andererseits, was wissen Eltern wirklich von ihren fast erwachsenen Kindern? Wie sehr wollen sie sie kontrollieren? Versucht Amanda sich von den Erwartungen zu befreien, immerhin traut sie sich nicht, dem Vater zu sagen, dass sie, z.B. nicht mehr Aerobicturnen machen will. Als Nico immer schlechtere Noten bekommt, soll er sich von Amanda fernhalten. Immer auf ihre Äußeres reduziert, fällt Amanda aus Trotz auch auf Sixtens Avancen rein. Ihm ausgeliefert, fühlt sich Amanda in der eigenen Familie gefangen, denn er lebt praktisch bei den Kekkonen. Und wie wird Isabella reagieren, wenn herauskommt, dass Sixten angeblich ihre Schwester vergewaltigt hat.
Psychologisch genau entwirft Matthias Edvardsson ein Bild der schwedischen Gesellschaft, in der Familien von außen betrachtet, einfach nur glücklich sind. Doch was wirklich zwischen den eigenen vier Wänden passiert, geht niemanden etwas an.
„’Was ist eigentlich aus uns geworden?‘, fragte Jari.
Er betrachtete Marias Zweitausendkronenbluse, ihre durch Airbrush-Tanning gebräunte Haut, die Brüste, die sie hatte straffen lassen. Er betrachtete die dänische Designerlampe, den Tisch, den sie eigens aus England bestellt hatten, die im Regal nach Farben sortierten Bücher, die sie nie zu lesen geschafft hatten. All das hatte er fälschlicherweise für Glück gehalten.“