Ashley Audrain: Das Geflüster – Niemand hat es gesehen. Doch alle haben etwas gehört., Aus dem Englischen von Holger Wolandt und Lotta Rüegger, Penguin Verlag, München 2024, 352 Seiten, €22,00, 978-3-328-60182-1
„Sie unterwirft sich nicht den sozialen Konventionen, die anderen berufstätigen Müttern so viele Schuldgefühle bereiten. Sie denkt nicht darüber nach, was in ihrer Abwesenheit zu Hause passiert. Für sie ist die Frage wichtig, was ihr gefällt. Sie genießt es mehr, ihrem Beruf nachzugehen, als müßige Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Die vertrödelten Stunden bringen ihr nichts. Sie sieht sich nicht als diesen warmen Körper, der tägliche Abläufe anleitet, dafür sorgt, dass alles wie am Schnürchen läuft, dass Wechselsachen da sind und Sonnencreme aufgetragen wird. …
Sie braucht Zeitfenster mit ihnen, keine Ewigkeiten. Kleine, überschaubare Fenster.“
Whitney Loverly lebt in ihrem avantgardistischen Haus in einer gut situierten Wohngegend in der Harlow Street. In ihrer Beratungsfirma steigt die ehrgeizige Whitney immer weiter auf, hat sozusagen alles im Griff. Sie pusht sogar ihren Ehemann Jacob, der als Kunsthändler für die Schönen und Reichen sehr viel unterwegs ist. Nach ihren zwei Schwangerschaften hat Whitney sehr schnell wieder das Haus verlassen. Um die dreijährigen Zwillinge Thea und Sebastian und den neunjährigen Xavier kümmert sich fast rund um die Uhr eine Nanny. Alles hat Whitney unter Kontrolle, nur nicht ihren etwas dicklichen wie angeblich motivationslosen Sohn, der in der Schule keine besonderen Leistungen zeigt, keine Freunde hat und auch sonst eher durch seine sture wie mürrische Art sie unsäglich nervt.
„Sie denkt an den farbsortierten, randvollen Handykalender, ohne den sie nicht leben könnte. Für ‚Spielen‘ gibt es keine Farbe.“
Mutterschaft als literarisches Thema kündigt sich bereits durch das Eingangszitat von Rachel Cusk an. Wie bekommt man alles unter einen Hut? Wie kann eine Mutter mit Beruf, Ehemann und Kindern glücklich leben? Whitney kann sich Hilfe erkaufen. Doch was ist mit ihren Kindern? Wie ergeht es ihnen, wenn die Mutter nur gestresst und unzufrieden ist? Denn Whitney kann sich ihren Sohn nicht formen, so wie sie ihn gern hätte.
Ganz anders lebt Nachbarin Blair. Sie hat ihren Job in der Werbeindustrie aufgegeben, um all ihre Zeit ihrer siebenjährigen Tochter Chloe, die mit Xavier in die gleiche Schule geht, zu widmen. Sie wiederum lässt ihren ganz persönlichen Frust an ihrem Ehemann Aiden aus, der nicht so gut verdient wie Whitney und auf Provisionsbasis Software Security verkauft und seiner Frau nichts recht machen kann. Zwar arbeitet sie ein paar Stunden in der Woche in einem Klamottenladen, doch das erfüllt sie nicht. Auch wenn sie alles für ihre Tochter sein will, so fühlt sich Blair doch als Opfer, als die „nur Hausfrau“. Um sich etwas Gutes zu tun, schleicht Blair, die mit Whitney befreundet ist, mit der sie aber eigentlich nichts verbindet, ins große, teuer eingerichtete Haus der Nachbarin. Insgeheim bewundert sie Whitneys scheinbar so glückliches wie erfülltes Leben und diese genießt heimlich ihre Überlegenheit. Doch dann entdeckt Blair bei ihren Erkundungen im Haus Aidens Büroschlüssel.
Eine gute Beobachterin der Nachbarfamilien und auch sozialen Veränderungen im Wohnviertel ist die zweiundachtzigjährige Mara Alvaro, eine Portugiesin, die vor Jahren mit ihrem Ehemann Albert ausgewandert ist. Zwar fühlt sie sich von den anderen ausgeschlossen, sieht aber, wie sie und ihre Kinder ihre Tage verbringen. Nur Rebecca, eine junge Ärztin, spricht öfter mit der in ihrer Ehe so unglücklichen Mara. Rebecca sehnt sich nach einem Kind. Doch nach fünf Fehlgeburten scheinen sie und ihr Mann Ben, den Kinderwunsch langsam aufzugeben.
Ashley Audrian lässt all ihre Figuren zu einer Party im September, deren Verlauf wie ein roter Faden durch den Roman führt, auftreten. Nach und nach entblättert sie in einem teils ironischen Erzählton das Privat- wie Eheleben der Ende dreißig- bis vierzigjährigen Protagonisten. Jeder scheint jedem etwas vorzumachen und wahrt doch den äußeren Schein.
Als dann jedoch Whitney dieses Spiel ohne Absicht durchbricht, macht sich ein „Geflüster“ breit, das signalisiert, dass irgendetwas nicht stimmt. Als Whitney ihren kleinen Sohn Xavier dabei erwischt, wie er auf der Party klammheimlich die Geschenkbeutel für die Kinder öffnet, um die Schokolade von den Keksen abzulecken, rastet sie völlig aus und schreit den Jungen hysterisch an. Da die Fenster offen stehen, dürfen es alle in Sichtweite hören. Die Fassade der Perfektionistin ist angekratzt.
Und es kommt noch viel schlimmer. Und ab hier kippt die Geschichte fast ein Jahr später ins Tragische. Xavier ist in der Nacht aus dem Fenster seines Kinderzimmers in die Tiefe gestürzt. Im Krankenhaus kümmert sich Rebecca um die Erstversorgung des schwer verletzten Kindes. Doch was ist mit dem Jungen geschehen? Was hat er in der Nacht am Fenster zu suchen? Was ist zwischen Mutter und Sohn geschehen?
Multiperspektivisch erzählt die kanadische Autorin Ashley Audrain vom wechselvollen Leben ihrer Protagonisten, die angekommen in einer Beziehung alles richtig machen wollen und doch scheitern. Die Ehemänner halten sich aus aller Verantwortung für die Kinder raus und sind eher zum Bespaßen und natürlich Geld verdienen da, um den Lebensstandard zu halten. Einige betrügen ihre Ehefrauen oder schließen die Augen vor den Problemen. Nachdenklich stimmt dieser gut geschriebene Roman, der so einige gute Sätze enthält:
„ In der Ehe geht es nicht um Liebe, sondern um Entscheidungen.“