Lisa – Maria Seydlitz: Sommertöchter, Dumont Buchverlag, Köln 2012, 208 Seiten, €18,99, 978-3-8321-9662-2
„Ich frage mich, ob ich den Erinnerungen trauen kann, die sich aufdrängen, die plötzlich da sind, oder ob die Erinnerungen mit Träumen verschmelzen und zu einem werden, wie bemalte Folien, die man übereinanderlegt und die sich so zu einem neuen Bild fügen.“
Juno, Anfang 20, erhält einen rätselhaften, anonymen Brief. Sie soll sich um ihr weißes Fischerhaus mit dem roten Dach in der Bretagne kümmern. Nur hat Juno keine Ahnung, was diese Zeilen bedeuten sollen und vor allem warum so betont wird, dass dieses väterliche Erbe auch ihr gehöre.
Junos Mutter schweigt zu allem, tut so als habe sie nicht die geringste Ahnung, was es mit diesem Haus auf sich haben soll, rückt aber einen Schlüssel heraus. Den Vater kann Juno nicht fragen, denn er hat sich vor acht Jahren, da war Juno zwölf Jahre alt, das Leben genommen. In sporadisch einsetzenden Erinnerungen und assoziativen Rückblenden setzen sich langsam Bilder aus Junos Kindheit zusammen von einer energiegeladenen Mutter, die nicht nur ihren Buchladen in Schwung hält, sondern auch noch gleich die Käufer mit Mittagessen versorgt und einem Vater, der beruflich ständig auf Reisen ist und irgendwann in Depressionen verfällt. Seltsame Anrufe, die die Mutter aus dem Konzept bringen, folgen Krankenhausaufenthalte, nach denen alles anders werden soll.
Eine wage Erinnerung leuchtet an einen Urlaub in der Bretagne auf, in der ein halbfertiges Haus eine Rolle spielt, die Zeit allerdings im Hotel verbracht wurde.
Mit allen diesen unklaren Bezügen zur Vergangenheit reist Juno in den Norden und trifft in dem Haus am Meer eine fremde Frau in ihrem Alter, Julie. Die junge Französin arbeitet in der Bar du Matin im Ort und hat sich angeblich einfach Zugang zum Haus, das ja sowieso leer stand, verschafft. Eine Lüge, denn auch Julie hat einen Schlüssel.
Juno wird immer misstrauischer und beginnt Julies Sachen zu durchsuchen. Sie findet eine Schneekugel, die einmal auch ihr gehörte.
Langsam wird Juno klar, ihre Mutter hatte systematisch alle Erinnerungen an den Vater verschwinden lassen, die Fotos, die Möbel, die Geschenke von seinen Reisen. Fast fluchtartig verließen Mutter und Tochter nach dem Freitod des Vaters das gemeinsame Haus. Alles wieder auf Anfang, ohne nach hinten zu schauen, wird zur Lebensdevise der Mutter. Sie sucht sich einen neuen Mann, bekommt ein Kind und Juno zieht sich in ihrer Trauer um den Vater immer mehr in sich zurück, verliert den Halt durch die Mutter.
Aber auch Julie hat vieles entbehren müssen, was Juno mit dem Vater erleben durfte.
Der Leser bekommt keine einfache, bequeme Geschichte präsentiert, sondern ist gefordert, selbst zu analysieren, zusammenzusetzen und zu diagnostizieren.
Die Fahrt ins Ungewisse wird Juno befreien, denn sie stellt sich ihrer Einsamkeit und verarbeitet die Trauer um den Vater.
Der Debütroman der jungen Autorin Lisa-Maria Seydlitz liest sich trotz Geheimnissen, den Wechseln zwischen den Zeitebenen und der Themenschwere erstaunlich leicht und unaufgeregt. Schnell ahnt der Leser, dass Julie und Juno einen gemeinsamen Vater haben, Sommertöchter sind.
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