Satu Rämö: Hildur – Die Spur im Fjord, Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara, Heyne Verlag, München 2023, 368 Seiten, €16,00, 978-3-453-42817-1
„Die gleichartigen Haarbüschel, die im Mund beider Opfer gefunden worden waren, deuteten darauf hin, dass es sich um denselben Täter handelte. Trotzdem sollten die Fälle wenigstens vorläufig separat untersucht werden.“
Alles klingt, wenn es um Polizeiarbeit in Island geht, insbesondere in den gebirgigen Westfjorden und in Ísafjörður zuerst so harmlos. Die Leute lassen sogar die Schlüssel in ihren Autos stecken, sie schließen ihre Häuser nicht ab und ein Fahrrad klauen lohnt nicht, da jeder weiß, wie das des Nachbarn aussieht. Ein bisschen heile Welt, jeder kennt jeden, jeder ist mit jedem um tausend Ecken verwandt. Doch weit gefehlt, auch wenn Übertretungen der Geschwindigkeitsgrenzen im Fahrverkehr, Drogenhandel, Betrug und andere Delikte eher die Polizei beschäftigen als Mord. In diesem Fall muss sich die Kriminalbeamtin Hildur Rúnarsdóttir, die eigentlich für vermisste Kinder zuständig ist, ihre Vorgesetzte Elisabet Baldursdottir und sogar der neue Praktikant aus Finnland, Jakob Johanson gleich mit mehreren männlichen Opfern nach Gewalttaten auseinandersetzen. Hildur hatte eigentlich Geschichte studiert, sich dann aber der Polizei zugewandt. Ähnlich verlief es auch bei Jakob. Er war im ersten Beruf Biologielehrer, um dann die Richtung zu wechseln. Ein Grund war vielleicht auch seine komplizierte Scheidung von seiner norwegischen Frau und die nervenzerreibenden Auseinandersetzungen ums Sorgerecht des gemeinsamen Sohnes. Auch Hildur trägt eine tragische Geschichte mit sich herum, denn ihre beiden Schwestern sind vor fast fünfundzwanzig Jahren auf dem Weg von der Schule nach Hause verschwunden. Niemand hat sie je gefunden und auch die Eltern sind vor Kummer früh verstorben. Hildur treibt viel Sport, stählt den Körper und geht sogar bei heftigstem Wind und Wetter surfen. An ihrer Seite ist oft ihr Nachbar Freysi, mit dem sie eine lockere Sexbeziehung hat, ihn aber auf ihre Art mag und er sie auch.
Eine Weile dümpelt die Handlung so vor sich hin. Es geht um Hildurs mögliche Gabe, die ihr immer wieder von ihrer Tante Tinna, bei der sie auch aufgewachsen ist, eingeredet wird. Aber Hildur kann nicht hellsehen und glaubt auch nicht an Kobolde. Auf eine gewisse Weise ist die neue eingeführte Figur, der ruhige Finne, witzig, denn er hat sich, um nicht durchzudrehen, ein Hobby angeschafft. Er strickt, und das mittlerweile ziemlich gut, auch wenn das Polizeiteam seine Besprechungen abhält. Am Ende des Falles springt sogar ein toller Pullover für Hildur mit einem interessanten und gar nicht mal so einfachen Muster heraus.
Aber dann stürzt eine Lawine hinab, unter anderen auf das Haus von Jón Jónsson, einem bekannten Pädophilen, dem die Polizei so gar nichts nachweisen kann. Als man ihn findet, wurde ihm die Kehle durchgeschnitten und das, bevor die Lawine sich in Gang setzte. Der seltsame Tod einer jungen Frau auf einer Berghütte geschieht und ein ziemlich mieser Anwalt aus Reykjavík namens Heiðar Arason wird mit seinem eigenen Wagen totgefahren. Seltsamerweise, und in diesem Fall ein Glück für die Polizei, gibt es nur einen Pathologen auf der Insel. Dieser entdeckt, dass sich in Jón und Heiðars Mund abgeschnittene blonde Haare befinden. Noch später wird sich herausstellen, dass beide verwandt sind, Vater und Sohn. Völlig unerklärlich ist dann jedoch der wirklich tragische Tod von Hildurs freundlichem Nachbarn. Er stürzt die Klippen hinunter, weil der Schutzzaun entfernt wurde. Auch in seinem Mund sind die blonden Haare platziert. Hildur und das Team stehen vor einem unlösbaren Puzzle, dessen Teile nur sehr sehr langsam an die richtige Stelle rücken.
Spannend ist dieser Kriminalroman natürlich durch seinen einmaligen Handlungsort und all der Wissensvermittlung über isländische Lebensformen und Besonderheiten. Lust aufs Lesen bekommt man aber auch, weil Satu Rämös überwiegend sympathische Figuren überzeugend agieren. Die Autorin legt keinen Wert auf brutale Szenen und konzentriert sich auf die akribische Polizeiarbeit, die im eisigen Winter, auch durch den Mangel an Fachkräften, immerhin arbeiten die Isländer oftmals in mehreren unterschiedlichen Jobs, ein bisschen komplizierter ist als in europäischen Ländern. Offen bleibt nach wie vor die Suche nach den verschwundenen Mädchen und das heißt, man muss unbedingt den Folgeband lesen.