Donna Leon: Wie die Saat, so die Ernte – Commissario Brunettis zweiunddreißigster Fall, Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz, Diogenes Verlag, Zürich 2023, 315 Seiten, €26,00, 978-3-257-07227-3
„Und wieder stutzte er. Warum nur hatte der Tote ausgerechnet die Bücher, die er besaß? Und wie nur konnte der Mann, der in einer so geschmackvollen, wenn auch kärglichen Umgebung lebte, etwas so Hässliches wie diesen bedrohlich wirkenden, verwilderten Garten um sich her ertragen?“
Wer hätte gedacht, dass der oftmals geschmähte Agente Dario Alvise, der nicht gerade Vianellos oder gar Brunettis Lieblingskollege ist, mit seiner Geschichte einen Donna Leon – Roman eröffnen würde. Doch Alvise wurde von der Polizei in Treviso bei einer Demonstration festgenommen. Angegriffen von einem gegnerischen Demonstranten muss sich der oftmals auch tollpatschig handelnde Alvise, der seine Homosexualität stets geheim gehalten hat, nun wehren. Als Brunetti und Vianello ihn aus dem Gewahrsam holen, erfahren sie, dass Alvise schon acht Jahre mit dem Tischler Christiano zusammen lebt. Aus Angst vor der Reakion der Kollegen, insbesondere der von Brandini, mit dem er auch zusammenarbeitet, hatte Alvise sich sehr bedeckt gehalten, was sein Privatleben angeht. Doch auch Brandini, der einer kirchlichen Laienorganisation angehört, sollte man nicht unterschätzen.
Dieser zweiunddreißigste Band beginnt gemächlich. Es ist November, die allseits beliebte Assistentin von Patta, Elettra, weilt auf einer Weiterbildung und Brunetti schreibt Leistungsbeurteilungen. Doch dann wird ein Toter im Canale Grande entdeckt und die Ermittlungsarbeiten können beginnen, die Brunetti auf sehr verwirrenden Faden in die Zeit der politisch geprägten 1970er Jahre, die sogenannten „bleiernen Jahre“ zurückversetzt, eine Zeit, in der in Norditalien geprägt vom Terrorismus ungewöhnlich viele Entführungen an der Tagesordnung waren.
Der Tote ist ein illegal in Italien lebender Mann aus Sri Lanka, der bereits seit acht Jahren im Gartenhaus des Palazzos am Campielle de la Cason lebt. Die Inhaber des Palazzos, Professor Molin und seine Frau, glaubten zu wissen, dass Inesh Kavinda aus Colombo einfach nur arbeiten wollte. Er hat dann ohne Arbeitserlaubnis oder gar Aufenthaltsgenehmigung Dinge repariert und den Professor, der vor Kurzem einen Schlaganfall hatte, zur Universität begleitet. Der Zweiundfünfzigjährige hatte auch guten Kontakt zu den Nonnen, die seine Nachbarinnen waren. Er hat viel gelesen, hat sich mit Landsleuten getroffen und hat offenbar keiner Seele etwas getan. Seltsam mutet an, dass er in der Tasche einen Fingerknochen bei sich getragen hat.
Brunettis Ermittlungen stoßen mit Elettras Hilfe dann auf Molins Vergangenheit und Zeitgenossen, die auch Brunetti nicht unbekannt sind. Er erinnert sich an den Fall des Professors Loreti, aussichtsreicher Kandidat der Christdemokraten für die Parlamentswahlen damals, der spurlos verschwand. Zwischen den Büchern Kavindas, die sich auch mit der Geschichte der Roten Brigaden beschäftigt, findet Brunetti einen Sammelband mit interessanten Plakaten und Zeitungssausschnitten. Was dieser Band mit dem Opfer, dem Garten und der italienischen Geschichte zu tun hat, wird Brunetti natürlich herausfinden.
Abgesehen von Brunettis Tauchgang in die italienische Zeitgeschichte liest sich dieser zweite Teil des Buches absolut spannend und zeigt, wie politisch doch die achtzigjährige Donna Leon immer noch denkt.
Wie immer lesenswert und auf der Höhe der Zeit!