Michael Connelly: Zwei Wahrheiten – Der 20. Fall für Harry Bosch, Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb, Kampa Verlag, Zürich 2023, €, 978-3-311-12061-2

„Er wusste, dass es auf dieser Welt zwei Wahrheiten gab. Die Wahrheit, die das unerschütterliche Fundament des Lebens und der Mission eines Menschen war. Und die andere, formbare Wahrheit, die Wahrheit von Politikern, Scharlatanen, korrupten Anwälten und ihren Mandanten, die Wahrheit, die sich für eigene Zwecke verdrehen und verfälschen ließ.“

Es ist schon makaber, aber der Mordermittler Harry Bosch kümmert sich um seine erkalteten Fälle, die niemanden mehr so richtig interessieren, in einer Gefängniszelle, angefüllt mit Akten. Trotz all der Jahrzehnte, die Harry bei der Polizei verbracht hat, kann er von der Arbeit nicht lassen. Seine Tochter ist ihm wichtig und vielleicht die Jazzmusik, die er zu gern in seinem Haus in den Hollywood Hills hört. Als dann jedoch Ermittler aus San Fernando mit seiner ehemaligen Partnerin bei dem Los Angeles Police Department, Lucia Soto, ihn darüber informieren, dass der skrupellose Preston Borders, den Harry vor sehr langer Zeit in die Todeszelle gebracht hat, voraussichtlich frei kommen wird, weiß er, er muss jetzt für seinen guten Ruf kämpfen. Preston Borders hatte eine junge erfolglose Schauspielerin vergewaltigt und ermordet. Zwei weitere Morde konnte man ihm nicht nachweisen, aber es gab ein Indiz, dass er in seiner Wohnung versteckt hatte, einen Seepferdchenanhänger, der eindeutig dem Opfer gehörte. Harry beginnt nun alle Akten, die Soto ihm nicht ganz freiwillig zukommen lässt, zu durchforsten. Da auf einem Kleidungsstück der Toten nun nach Jahren die DNA von einem weiteren Vergewaltiger und Mörder, der allerdings bereits im Gefängnis gestorben ist, gefunden wurde, steht fest, dass Borders unschuldig ist. Harry beginnt an sich zu zweifeln.

Doch dann muss er sich mit einem perfiden Doppelmord beschäftigen, der an José Esquivel und seinem Sohn, der gerade sein Studium abgeschlossen hatte, verübt wurde. Die kalte und berechnende Brutalität, mit der die vermummten Täter in der Apotheke mit Kameras vorgegangen sind, ist beispiellos. Harry ahnt schnell, dass die Auftragskiller Rache geübt haben, insbesondere an dem Sohn. Er hatte bei Medical Board of California einen Medikamentenschwindel und somit auch korrupte Ärzte angezeigt und nicht geahnt, dass er sich mit dem organisierten Verbrechen anlegt. Nur durch einen Undercover – Einsatz könnte der stets gut versteckte Kopf der Bande, Santos, gefasst werden. Harry Bosch wird sich als obdachloser, vorgeblicher Oxycodonsüchtiger ausgeben und mit gefälschter Medicare-Karte und Ausweis für die kriminelle russische Bande, die schwunghaften Tablettenhandel betreibt, arbeiten und in Lebensgefahr begeben.

Allerdings wird er parallel dazu auch noch feststellen, dass er im Fall Borders keine Zweifel haben muss. Borders behauptet in seiner aktuelle Aussage, dass Harry ihm das Beweismittel, also den Seepferdchenanhänger, heimlich untergeschoben habe. Und natürlich weiß Harry, dass das eine gemeine Lüge ist, die er jedoch entschärfen muss und beweisen, dass Strafverteidiger Lance Cronyn hinter allem steckt und wie in den versiegelten Beweismittelkarton die DNA gelangt ist.

Und dann ist da noch der Fall einer verschwundenen Frau, die ihr Baby vor fünfzehn Jahren allein gelassen hat. Auch sie wird Harry finden.

Kurzum, Harry Bosch, der auch nach Jahren noch Empathie für die Opfer empfindet und seinen Gerechtigkeitssinn nie verliert, hat in kürzester Zeit drei komplexe Fälle zu lösen, in denen er sich mit Paragraphen, Vorschriften und bürokratischen Abläufen herumschlagen muss. Mit ungeheurer Fleißarbeit, eine Menge Akten sind zu wälzen, und guten Verbindungen und Erfahrungen des Ermittlers warten diese auf positive Auflösungen, die der bekannte Krimiautor zur Zufriedenheit der Lesenden mit reichlich Personal und dem Glauben an ein gutes amerikanisches Rechtssystem überzeugend liefern wird. Wie immer geht es ums liebe Geld und wie immer bleiben Zweifel, denn die Polizei kann zwar den Kopf der giftigen Schlange abschlagen, aber nicht weit entfernt, beginnt eine neue Schlange ihr Unheil, denn Tablettenabhängige gibt es überall in den USA.

Michael Connellys eigensinnige Hauptfigur, Harry Bosch, muss man einfach mögen. Auch wenn er wirklich ein routinierter Autor ist, schreibt er atemberaubend und vor allem intelligent. Man spürt, dass er sich auskennt und vor allem nichts verharmlost und auch drastische Szenen zulässt.