Gøhril Gabrielsen: Zwischen Nord und Nacht, Aus dem Norwegischen von Hanna Granz, Insel Verlag, Berlin 2022, 270 Seiten, €23,00, 978-3-458-64348-7
„Ich: Was tun wir jetzt? Wie sollen wir nach diesen Ereignissen weiterleben? Wie können wir rechtfertigen, dass wir auf die eine oder andere Weise möglicherweise dazu beigetragen haben, dass es so weit gekommen ist?
Helena: Wir müssen uns Erklärungen zurechtlegen. Erklärungen, mit denen wir leben können. Erklärungen, die unser Handeln stützen und den Glauben an uns selbst als einigermaßen anständige Menschen erhalten.“
Die Gedichte der früh verstorbenen Edith Södergran haben die Ich-Erzählerin Marie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr beeindruckt und beeinflusst. Edith Södergran gilt trotz ihrer kurzen Schaffenszeit, sie verstarb 1923 mit einunddreißig Jahren an Tuberkulose, als bedeutende Lyrikerin.
Parallel zu Maries eigener Geschichten versucht sie aus der Sicht der Mutter von Edith, Helena, dem besonderen Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nachzuspüren, da wenige schriftliche Zeugnisse hinterlassen wurden. So oder so hätte es sein können, Versionen von unterschiedlichen Szenarien der möglichen Ereignisse werden durchgespielt, darauf weist die Erzählerin immer hin.
1995 ist Maries Tochter Lu vier Monate alt. Die Bibliothekarin, die um ihre eigene Unzuverlässigkeit weiß, scheint keinen festen Partner zu haben, denn ihre Gedanken kreisen immer wieder nur um sich und Lu. Die Tochter soll schnell selbstständig werden, sich von der Mutter lösen können. Marie hat dieses Bedürfnis sich von der Tochter abzusetzen, sie auf Distanz zu halten.
„Meine dunklen Seiten waren an die Oberfläche getreten, eine Kälte aus einer unbekannten Tiefe, und das entsetzte mich, als hätte ich an einem heißen Sommertag plötzlich Frost aus meinen Mund dringen sehen.“
Später werden die Lesenden erfahren, dass Marie ihre Tochter wildfremden Menschen einfach überlassen hat, um Zeit für sich zu haben, zum Lesen oder Feiern. Einmal hat sie das Kind fast drei Tage bei fremden Leuten allein gelassen, um dann festzustellen, dass sie wenig Lust hat, das Mädchen abzuholen und dann mit Grausen sehen musste, dass sich niemand um das verwahrloste Kleinkind wirklich gekümmert hat. Ein Schock.
Doch was bleibt von diesen Erfahrungen, woran kann sich das Kind erinnern? Lu wird als Kind auffällig laut und nervig sein, viel Raum einnehmen und so gar nicht Maries Vorstellungen entsprechen, möglicherweise eine Gegenreaktion auf das Verhalten der Mutter.
1897 – Helena stammt aus wohlhabendem Haus und lebt in der karelischen Landenge. Als sie mit ihrem ersten Kind, einem schwachen Jungen, schwanger wird, ist das ohne Frage eine Schande für die Familie. Das Kind lebt nur achtzehn Tage. Als sie dann doch noch geheiratet wird und ein Kind erwartet, lebt sie in der Angst, ihre Tochter Edith nicht lieben zu können. Helenas Ehemann Matts entpuppt sich als labiler Trinker und Spekulant. Mutter und Tochter leben mal in St. Petersburg, mal in Raivola. Helena spürt, dass ihre begabte Tochter kaum Freunde hat, vereinsamen könnte.
Helena beschließt, das vierzehnjährige, elternlose Bauernmädchen Singa ins Haus zu holen. Edith ist zu diesem Zeitpunkt zwölf und fasziniert von allen möglichen Geschichten, die sie dramatisch in ihren Alltag einbaut. Singa ist verschlossen, hat keinen Zugang zu Ediths Gedanken, sie spricht nur Finnisch, arbeitet fleißig handwerklich und hilft im Haushalt. Zwar lernt Singa Ediths Sprache und doch finden die Mädchen nicht zueinander. Nach Differenzen und verbalen wie gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Mädchen kommt es zu einem Eklat, in den auch Helena verwickelt ist. Singa verschwindet darauf hin im eiskalten St. Petersburger Winter.
Lu hat das Haus der Mutter, wie erwartet, verlassen um zu studieren. Doch sie ist keine fleißige Studentin, sie feiert gern, ist unbeständig und verschafft der Mutter nicht die Ruhe, die sie sich erhofft hatte. Als Lu dann den älteren Tor kennenlernt und auch mit ihm zusammenzieht, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Doch auch Tor kämpft mit seinen Dämonen. Eine Freundin von Lu trägt der Mutter zu, dass es zwischen Lu und Tor, der unberechenbar und voller Kontrollwahn Lu tyrannisiert, diverse Auseinandersetzungen gibt. Immer wieder verschwindet Tor und lässt Lu im Ungewissen. Marie glaubt nun, eingreifen zu müssen und stößt bei Lu und Tor auf Unverständnis, bis Lu dann die Mutter bittet, ihr bei der erneuten Suche nach Tor zu helfen.
Die Tragödien in beiden Geschichten sind vorprogrammiert und nichts kann ungeschehen gemacht werden.
Mütter versuchen ihre Töchter, denen sie symbiotisch oder auch distanziert gegenüberstehen, zu schützen und vermögen es nicht.
Gøhril Gabrielsen erzählt von Schuldgefühlen und dramatischen Geschichten im Leben von Marie und Helena in einer poetisch feinen Sprache. Durchwoben mit Gedichtzeilen und im Einklang mit der Natur versucht die eine Mutter verzweifelt nach der eigenen Identität ohne Kind und die andere widmet ihre gesamtes Leben dem geliebten Kind bis zum bitteren frühen Tod und darüber hinaus, denn Helena schreibt sogar ihre Erinnerungen an die Tochter auf.