Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes, Aus dem Amerikanischen von Anette Grube, Aufbau Verlag, Berlin 2022, 222 Seiten, €22,00, 978-3351 03876-2
„Man wünscht sich, ohne Zorn und Bitterkeit oder Scham zurückblicken zu können. Man wünscht sich, alles erzählen zu können, ohne Schuld zuzuweisen oder zu entschuldigen. ….
Freud sagt, das wichtigste Ereignis im Leben eines Mannes ist der Tod des Vaters.
Oh. Mutter.“
Den nordischen Vornamen hat die amerikanische Autorin, die mit ihren Romanen erst in den letzten Jahren bei deutschen Lesenden bekannt wurde, von der Mutter Christa. Sie lernte ihren doppelt so alten Mann nach dem Ende des 2. Weltkrieges kennen. Nunez ist der von ihm eigenartigerweise gewählte spanische Nachname bei der Einbürgerung, zumal er chinesisch-panamaischer Herkunft war. Redete der Vater sehr wenig, so konnte die Mutter mit ihren Tiraden alle auf die Palme bringen. Gestritten haben die Eltern ununterbrochen, wobei wohl eher die Mutter ihren Unmut und ihre ewige Unzufriedenheit kundtun musste. Die Autorin hat weder von ihrem Vater Chinesisch gelernt, noch von ihrer Mutter Deutsch. Hat der extrem arbeitsame Vater sich immer still verhalten, so hat die Mutter, die sich immer als Hausfrau sah und nicht auf den Gedanken kam, selbst zu arbeiten, laut über die Armut der Familie lamentiert. Nach zwei Schwangerschaften war die dritte Tochter – Sigrid – nicht willkommen. Nie hat die Familie gemeinsam Urlaub gemacht, denn der Vater hat auch an den Wochenende gekellnert. Wenn er dann mal etwas Geld hatte, musste er es beim Pferderennen verspielen. Groß geworden in einer Sozialbausiedlung hatte sich die Autorin ins Ballett verliebt und wollte unbedingt ihren Körper und die Kunst des Tanzes beherrschen.
„Leicht wie eine Feder zu sein, leicht wie eine Seele – ‚eine Feder auf dem Atem Gottes‘ (die heilige Hildegard von Bingen ).“
Disziplin kannte sie von der Mutter, die in ihrer Erinnerung nur einmal wirkliche Anteilnahme für ihr Kind zeigte. Ohne große Bildung, aber doch den Grimmschen Märchen und deutschen Mythen zugewandt, lebte die Mutter der Autorin ein nach außen hin einsames Leben. Immer konzentriert auf die Kinder und den nichtsnutzigen Mann weinte die Mutter oft aus Heimweh und Weltschmerz. Keine Freundin, nur Spott für die arme Nachbarschaft und Verachtung für den stillen, bescheidenen Ehemann. Was beide verband, war die Akzeptanz von Autorität.
„Mein Vater – ungeschickt, furchtsam, selbst eingeschüchtert von Autorität – war nicht gut genug. Sie war es, die das Auto fahren musste, die die Fahrräder der Kinder die Treppen hinauf- und hinuntertrug. Sie hatte die Hosen an.“
Sie sprach besser als ihr Mann Englisch, sie eignete sich in der Fremde vieles an und verachtete auch die Amerikaner und ihre Kultur, die natürlich keine war.
Mit seltsamer Milde und manchmal auch etwas traurig, aber auch scharfer Beobachtungsgabe beschreibt Sigrid Nunez ihre Eltern, die in keinster Weise in den USA je ankamen. Die Erinnerungen der Autorin, so weit Dichtung und Wahrheit im Einklang sind, scheinen dazu zu dienen, sich selbst besser zu verstehen und vielleicht endlich Fuß zu fassen.
So fragt sich die Autorin, was sie wohl von ihren Eltern übernommen hat, geerbt hat. Vom Vater sehr wenig, von der Mutter möglicherweise das Aussehen.
So hart die attraktive Mutter, die nie den Vater verlassen hat, auch in den Erinnerung erscheint, so unerklärlich ist ihre Liebe zu Tieren, die kein Zuhause hatten.
Mag dieses Buch Sigrid Nunez Erstlingsroman sein, so scheint die Gattungsbezeichnung nicht ganz richtig. Das Buch teilt sich in vier Abschnitte. Zum einen sind es die Erinnerungen an die Mutter, die Beschreibungen des Ballettunterrichts und die Begegnung Nunez‘ mit ihrem Liebhaber Vadim, dem sie die deutsche Sprache beibrachte. Sich die Liebe zu dem verheirateten Kleinkriminellen zu versagen, ist das Thema des letzten Abschnitts.