Katja Schönherr: Alles ist noch zu wenig, Arche Verlag, Zürich 2022, 315 Seiten, €23,00, 978-3-7160-2801-8
„ ‚Keine Blumen?‘, sagt sie.
Sie findet immer etwas, denkt Carsten. Sie. Findet. Immer. Etwas.
‚Ich sehe, du bist noch die Alte‘, erwidert er.
“Meinst du, hier drinnen werde ich jünger?’“
Carsten Ruck, Mitte fünfzig, geschieden und ziemlich frustriert, wenn es um seine vierundachtzig Jahre alte Mutter Inge geht, sucht immer nach Ausreden, wenn sie Forderungen an ihn stellt. Die Ausrede, er sei oder müsse sofort nach Brüssel, nimmt mittlerweile niemand mehr ernst. Seine fünfzehnjährige Tochter Lissa hat ihn längst durchschaut. Ex-Ehefrau Sabine kennt seine Taktiken, sich einfach unsichtbar zu machen.
Doch Carsten hasst all die Anforderungen, die an ihn gestellt werden. Er möchte einfach nur in seinem wunderbar neuen Auto sitzen und seine Ruhe haben. Dabei ähnelt er seinem längst verstorbenen Vater Richard. Wenn er in seinem Sessel saß, konnte ihn nichts wegbewegen. Nicht das Gezeter seiner Frau oder irgendwelche wichtigen Aufgaben. Jens, der Bruder von Carsten, wohnt weitab von der Familie in den USA und hat kaum Kontakt. Er hasst seinen Bruder und seine Mutter, die Carsten immer vorgezogen hat und auf seine Offenbarung, dass er schwul ist, mit Unverständnis reagiert hat.
Multiperspektivisch, mal aus Carstens, dann wieder aus Inges oder Lissas Sicht, erzählt Katja Schönherr, die in Dresden aufgewachsen ist und jetzt in der Schweiz lebt, von der Familie Ruck in der ostdeutschen Provinz.
Als Inge in ihrem Häuschen in Munßig von der Treppe fällt, hat Carsten gar keine Wahl. Er muss sich kümmern. Ein Altersheim lehnt sie vehement ab, genau so wie einen Rollator oder einen Toilettenstuhl. Stur beharrt sie auf ihren Erwartungen.
Carsten zieht dann mit Tochter Lissa von Berlin wirklich nach Munßig, aber nur, um dort ebenfalls zu arbeiten, trotz schlechtem WLAN. Lissa liegt mit ihrem Vater im Dauerstreit, da dieser für eine Firma arbeitet, die Plastikbeutel herstellt. Sie schaut auf die Generation ihres Vaters herab und spart nicht mit klugen Ratschlägen, was Umweltthemen oder Genderfragen angeht. Zu gern verteilt sie schlaue Post-its, um „sorglos-dumme Menschen vorzuführen“.
In Rückblenden erfahren die Lesenden, wie Carsten und Jens im Dorf aufgewachsen sind. Wie die Mutter mit ihrem Aktionismus Arbeit und Haushalt geschmissen hat und ihre Unzufriedenheit durch Gemecker, Griesgrämigkeit oder ständiges Beleidigtsein geäußert hat. Wenn ihr etwas nicht passt, dann wird nicht geredet, sondern geschmollt. Das kennt Carsten seit Kindertagen. Und natürlich weiß im Dorf jeder alles über jeden. Inge richtet auch ihr Leben nach den Spielregeln der Dorfbewohner, denen längst die Einkaufsmöglichkeiten genommen wurden. Nur die Schnapsbrennerei existiert noch im Ort.
Inge kann sich im Dorf auf ihre Nachbarin Ulrike, die zeitweilig auch mit Carsten liiert war, verlassen. Sie ist geblieben, sie versorgt ihre eigene kranke Mutter und die alte Nachbarin. So stellt sich Inge auch das Leben ihres Sohnes vor. Er lebt mit ihr im verstaubten alten Haus voller Nippes und sie muss nicht ins Altersheim. Lissa lässt sich zu Versprechungen hinreißen und Carsten denkt gar nicht daran, der Mutter nachzugeben. Natürlich erwartet sie von ihm, dass er vor dem Umzug des Schlafzimmers in die untere Etage, alles ordentlich tapeziert. Aber Carsten hat gar nicht die Kraft zu solchen Aktionen und auch keine Lust, wenn er ehrlich wäre. Er hat es einfach nicht gelernt, einen Weg mit der Mutter zu finden, um sich mit ihr erwachsen zu unterhalten. Inge und Carsten suchen immer nach Schuldigen, die ihr Schicksal verursacht haben. Klar ist, die Mutter wird in ihrem Haus kaum mehr die Treppe hochsteigen können und Alternativen müssen gefunden werden.
Katja Schönherr erzählt von drei Generationen, die in ihren Lebensvorstellungen nicht unterschiedlicher sein könnten und deren Konfrontationen aus der Distanz manchmal wirklich komisch sind. Carsten befindet sich in einer Existenzkrise, denn er ist natürlich für die Mutter verantwortlich, auch wenn seine Tochter gerade das Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ liest. Doch was kümmert ihn, was die Dorfbewohner sagen. Er muss für sich und seine Arbeit, die natürlich auch durch EU-Bestimmungen in die Krise rutscht, eine Lösung finden. Seine Tochter weiß alles besser, und das mag ihr gutes Recht sein. Allerdings beginnt auch Lissa langsam an dem zu zweifeln, was sie für das Richtige hielt. Mag sie einen kühlen Blick auf die Elterngeneration haben, der Großelterngeneration begegnet sie mit mehr Milde.
Die Sprachlosigkeit des Vaters und der Oma schmerzt Lissa und doch kann sie kaum vermitteln.
Lebensnah und ehrlich erzählt Katja Schönherr von einer Familie, die sich auf eine bestimme Art und Weise einfach nicht mehr versteht.