Florian Scheibe: Der Biss, btb Verlag, München 2022, 444 Seiten, €22,00, 978-3-442-75908-8

„Sie waren privilegiert, und nur die Tatsache, dass sie alle ein finanziell vollkommen sorgenfreies Leben führen konnten, ermöglichte es ihnen, sich um die Natur, das Klima und die globale Gerechtigkeit zu kümmern. Sobald ihre Wohlfühlinsel durch ein paar bettelnde und Flaschen sammelnde arme Teufel gestört wurde, war es vorbei mit ihrem Gutmenschentum.“

Nichts kann beruhigender sein, als die Gewissheit, dass man zumindest im Privaten, auch wenn es ziemlich teuer ist, – aber Opfer müssen gebracht werden – , etwas gegen den Klimakollaps und die Verschmutzung der Erde unternimmt. David und Sybil schweißt dieses gute Gefühl zusammen, denn sie wohnen in den Berliner Gleisgärten, in einem Nullenergie Mehrfamilienhaus mit Photovoltaik-Anlage, Umzäunung und Doorman. In ihrer gekauften gut geschnittenen, großen Dachgeschosswohnung tummeln sich auf der Terrasse drei Bienenvölker, man fährt natürlich auch kein Auto mit Verbrennungsmotor, man fliegt nicht, isst nur Bio-Lebensmittel aus der Region und man achtet genauestens auf seinen CO2-Fingerabdruck. Der zweijährige Sohn Jonas bekommt natürlich kein Fleisch und sein Spielzeug ist natürlich nicht aus Plastik, sondern ökologisch wertvoll. Da David seine Firma verkauft hatte, bot es sich an, dass er bei Jonas zu Hause bleibt und Sybil die Familie mit ihrem gut bezahlten Job als Coach, besonders für gestresste Manager mit Burnout, ernährt.

Als nun eines Tages Jonas friedlich auf dem Spielplatz mit seinen teuren Buddelsachen spielt und einem zugegeben etwas abgerissen angezogenen Kind nichts abgeben will, wehrt dieses sich mit einem heftigen Biss und einem Diebstahl der kleiner Schaufel. David tröstet und versorgt nicht sein Kind, er rast wie ein Wilder dem kleinen Verbrecher hinterher und erntet dafür Prügel von dessen Vater, der genauso zerrissen und lädiert aussieht wie sein Sohn. Diese Demütigung verschweigt David vor Sybil. Auch Petre aus Rumänien erzählt seiner Frau Aurica nichts von diesem Gewaltausbruch und der kurzen Zeit, die er Nelu aus den Augen verloren hatte. Beide bemühen sich vergeblich, beruflich irgendwie die Füße auf den Boden zu bekommen. Als Koch und Krankenschwester benötigen sie die deutsche Sprache und wenn sie nicht mindestens ein halbes Jahr eine Festanstellung hatten, können sie auch keine Sozialleistungen beantragen. Von den eigenen Landsleuten an der Nase herumgeführt und durch Petres erneuten Wutausbruch, landen sie letztendlich mit anderen auf der Straße und bewohnen das Birkenwäldchen gleich in der Nähe der pickfeinen Gleisgärten.

Florian Scheibe erzählt zeitlich parallel von den Geschehnissen und Konflikten in beiden Familien, deren Lebenswege sich immer wieder überschneiden.

Beide Familien erhoffen sich ein gutes wie glückliches Leben für ihre Kinder und doch sind beider Voraussetzungen, dies zu erreichen, sehr verschieden.

Sybil wollte auf jeden Fall als Gast einer Talkshow ein Zeichen setzen und über die Klimaerwärmung kritisch sprechen. Zu ihrem Frust wurde dieser Teil bei der Ausstrahlung herausgeschnitten. David, der natürlich nie fern schaut, und die Freunde, alle geeint durch ihren Kampf für eine bessere Welt, teilen Sybils Frust. Doch als David endlich wiedermal Sex haben möchte, wird er zurückgestoßen. Sybil hat kaum Kontakt zu ihrem Kind. Seit diesem Biss scheint der Junge immer aggressiver zu reagieren, und vor allem schreit das unberechenbare Kind nach Fleisch und Zucker.

Sybil jedenfalls verliebt sich in eine Frau, der unentspannte David hechelt einer 15-jährigen Klimaaktivistin hinterher und die Gemeinschaft des Hauses will endlich etwas für die Menschen in dem wilden Camp vor ihrer Haustür unternehmen. Was eigentlich bedeutet, sie per Wachdienst und Polizei aus dem Wäldchen zu vertreiben. Auch wenn David nach extremen Frustrationen dann sogar Petre natürlich mit dem Elektrowagen umfährt und Fahrerflucht begeht, setzt bei ihm zum Glück ein Denkprozess ein, der zumindest zu einem guten Ausgang führt.

Die Perspektivverschiebungen geben tiefe Einblicke in die unterschiedlichen Lebenswelten einer Generation und dieser beiden Paare.

Gutmenschen, die alles falsch machen, Doppelmoral, Lügen, Vertrauensbrüche und Gewalt – all das spielt beim genauen Blick in die bessere Gesellschaft in Deutschland eine Rolle. Diejenigen, die auf ein gutes Leben durch harte Arbeit hoffen, sind und bleiben die Verlierer.